Stefan Banz

Monika Kiss Horvath – BAR
ein Gespräch mit der Künstlerin

Banz: Ist dein Buch BAR vielleicht entstanden, weil du eine besondere Beziehung zu Italien hast und versucht hast, etwas Spezifisches von Italien festzuhalten?
Kiss: Ein Grund dafür, dass ich auf BAR gekommen bin, ist sicher, dass ich oft in Italien bin. Da sind mir die vielen Bars aufgefallen und ich habe gemerkt, wie sie mich zu interessieren beginnen.
B: Bedeutet BAR in Italien etwas anderes als in einem andern Land?
K: Ja, ich denke schon. Die italienische Bar ist für mich etwas, was es bis vor kurzem in der Schweiz kaum gegeben hat. Das hat sich in den letzten Jahren geändert.
B: Welche Bedeutung hat für dich BAR – in Bezug auf das Leben und in Bezug auf Italien? Was ist eine Bar?
K: Es ist das Thema der Imagination, das ich mit den drei Buchstaben verbinde. Das hat mich von Anfang an sehr interessiert. Wenn ich in Italien bin, gehe ich gerne täglich in eine Bar.
B: Auch wenn du allein bist?
K: Ja, ich gehe hinein und es geschieht eigentlich sofort etwas. Die Bar ist eine Art Tankstelle. Und wenn man will, lernt man schnell Leute kennen. Als ich in Italien lebte, konnte es vorkommen, dass eine Vertrautheit entstand, die sogar das Lösen von Problemen ermöglichte. Andereseits trifft man sich einfach in der Bar, man pflegt das soziale Netz ...
B: Wie kommst du nun dazu, eine Bar – der Ort Bar, seine Fassade, seinen Eingang – zu fotografieren? Ein Foto ausgehend vom Angelhaken BAR zu machen? Bisher hast du mit «abstrakten» Ideen und Konzepten, welche auf einfachen Strukturen beruhen, gearbeitet. Ein solches Konzept scheint auch das Thema BAR zu sein, nur dass das Medium der Umsetzung ein anderes ist, nämlich Fotografie.
K: Ja, warum mache ich, wenn ich in Italien bin und eine Bar sehe, so oft es geht, ein Bild davon?
Ich sehe eine Bar, ich bleibe vor ihr stehen und mache eine Fotografie. Dabei konzentriere ich mich auf das Äussere, auf die Architektur und die Umgebung. Die Fassade einer Bar ist wie ein Versprechen. Es werden Erwartungen geweckt, es stellen sich Vorstellungen ein, was in der Bar geschehen könnte ... Der Schriftzug und die Attribute, die draussen vorkommen, interessieren mich zudem, weil sie etwas über den Stil einer Bar aussagen.
B: Könnte man den Stil jenes Typs von Bar, der vorwiegend im Buch vorkommt, definieren?
K: Im Buch finden sich vorwiegend Bars, die mit viel Liebe und Herzblut des Besitzers, oder derjenigen Person, welche die Bar pflegt, gestaltet sind. Das heisst, wo ein nach aussen hin anonymer, gleichwohl persönlicher Gestaltungswille spürbar wird.
B: Was stand nun bei der Auswahl der Bars im Vordergrund? War es die Art der Bar, oder war es eher der fotografische Aspekt beim Festhalten der Aussenseite der Bar? Gab es Momente, bei denen rein fotografische Überlegungen entscheidend waren, dass du eine Bar ausgewählt hast? ... Zum Beispiel dieses Bild da: Das ist für mich in erster Linie Fotografie und nicht eine spezifische Aussage über eine Bar. Das ist eine sehr interessante Fotografie, weil sie fast wie Malerei funktioniert.
K: Im Grunde habe ich die für mich besten Bilder ins Buch aufgenommen.
B: Wo beides zusammenkommt ...
K: Diese Bar hier ist schön wegen ihrer einfachen Gestaltung. Das Gebäude ist eingerüstet und die Bar versucht sich mit der kleinen Leuchtschrift im Dschungel der labyrinthischen Altstadt von Genua selbst zu retten und mich zu sich hinzuziehen. Es besteht von der Verführung und Einsamkeit her eine Ausstrahlung. Und zum Bild: Es geht um die Farbe der Fassade, und dass das nächtliche Licht vorwiegend das Bild bestimmt. Dieses Bild lebt stark von der rötlichen Farbe, das ganze Bild ist in ein rotes Licht getaucht.
B: Wie machst du deine Fotos?
K: Es sind Schnappschüsse.
B. Mit welcher Kamera und mit welchen Filmen hast du die Bilder gemacht?
K: Weil es eine fotografische Arbeit von mehr als elf Jahren ist, waren es verschiedene Kameras. Aber es war immer eine kleine Sucherkamera mit einem guten Objektiv, die ich stets bei mir habe, wenn ich unterwegs bin. Und heute ist es nicht mehr die Gleiche wie bei den ersten Bildern ... Filme versuche ich die besten zu kaufen, die erhältlich sind.
B: Was heisst, die Besten? Hochempfindlich?
K: Nein. Niedrig. Das hat mit den Motiven zu tun, die zum Teil stark grafisch sind. Bei diesem Bild zum Beispiel ist es mir wichtig, dass das Blau des Wortes BAR möglichst ungestört erscheint. Beim Druck des Buches war das dann ein anderes Problem ... Oder hier, bei diesem Bild, möchte ich eine möglichst scharfe Aufnahme, auch wegen der vielen Details. Neben der grossen Bar-Schrift sind kleine Kleber auf der Scheibe zu sehen, oder es hängt ein Plakat an der Fassade – und da würde es mir gefallen, wenn man möglichst vieles lesen könnte. Das Fotografieren mit diesen Kameras stösst da an die Grenze.
B: Aber auf der anderen Seite erhältst du dadurch auch sehr viele malerische Aspekte, welche du vielleicht mit einer anderen Kamera nicht erreicht hättest ...
K: Ja. – Ich würde gerne auf etwas zurückkommen, was du angesprochen hast. Und zwar, wie dieses Buch mit meiner sonstigen Arbeit zusammenhängt.
B: Ich sehe einen unmittelbaren Zusammenhang zu deiner übrigen Arbeit: Die Vorgehensweise, sich ein Thema herauszunehmen, welches aus einem Wort mit drei Buchstaben besteht, und dem in einer rationalen, konsequenten Form nachzugehen, in einer bestimmten Form von Linearität – führt uns mitten in die Mentalität deiner übrigen Arbeiten. Es ist einfach ein anderes Medium: Es ist keine abstrakte Arbeit, sondern eine konkrete ... Aber sie ist in gewisser Weise auch abstrakt, denn wenn wir die Fotos genauer betrachten, sind da diese Linienverläufe und diese Strukturen – die kommen ja alle immer wieder vor.
K: Was meinst du mit Strukturen?
B: Zum Beispiel diese Musterungen. Die sind überall sehr präsent. Selbst im Wort BAR ist ein bestimmter Linienverlauf da ...
K: Dies hier ist für mich zum Beispiel eine interessante Doppelseite.
B: Da kommt zweimal dasselbe vor. Ist es das Gleiche? Ist es das einzige Mal, dass das Gleiche zweimal vorkommt?
K: Nein, meistens aber besteht ein Zeitunterschied zwischen den einzelnen Aufnahmen – eine kurze Zeit, vielleicht aber auch Jahre. Dabei entstehen kleine Abweichungen, wie hier: Auf dem einen Bild fehlt etwas: Der Hag im Vordergrund. Auf dem Bild daneben ist er weg. Sonst scheint alles gleich zu sein.
B: Es ist eine andere Perspektive.

K: Ja, es ist ein anderer Standpunkt und der erzeugt neue, zusätzliche Bildräume. Wenn ich diesen Hag im Vordergrund betrachte, kommt er mir viel grösser vor, oder besser gesagt, höher als abgebildet – sogar so, als reiche er bis zum Himmel. Er begrenzt eine Raumschicht im Bild. Dadurch wird er zu einem Wahrnehmungsfilter. Und hier auf dem anderen Bild fehlt nun dieser Filter, das heisst, der Raum ist "nackt”, im Gegensatz zum andern, "angezogenen”. Und dazwischen ist diese Raumschicht, die Vieles bewirkt und entscheidet. Wenn ich nun an das Thema BAR denke, so interessieren mich dort auch gewisse Raumschichten, die bildwirksam werden können. Oder anders gesagt, die verschiedenen Bildräume, wie sie beim Bar-Bild allein deshalb entstehen, weil die Fassade als Raumteiler wirkt. Darum kommen immer wieder transparente Dinge wie ein Haag, ein Gitter, Netzvorhänge etc. auf den Bildern vor. Auch sie definieren Räume. Sie agieren als Filter zwischen hier und da. Ich erlebe eine Zäsur zwischen Vorne und Hinten.
B: Hat das Wort BAR – im bildhaften Sinn – auch eine metaphorische Funktion, die man wahrnimmt, sobald man das Buch öffnet und darin zu blättern beginnt, und die sich von einer realen Bar löst? Ich frage dies, weil, wenn man sich näher auf die Fotografien einlässt, bekommen sie eine andere Dimension. Man beginnt plötzlich Dinge zu lesen wie «offen», Bar als Form von Offenheit, als offene Struktur. Man kann noch mehr assoziieren – «offenbar», ...
K: Ja, «offenbar» ist gut!
B: ... «unmittelbar», «mittelbar» ... BAR ist auch direkt. Zum Beispiel «Bargeld» ist eine direkte Form von Bezahlung. Es hat etwas Spontanes. Und das würde dann wieder mit dem Schnappschuss korrespondieren, der auch sehr spontan ist. Und trotzdem hat das Ganze dann doch wieder Struktur. Es geht deiner künstlerischen Arbeit nach.
K: Nehmen wir zum Beispiel diese beiden Bilder da. Der Rolladen ist auf beiden Bildern halb heruntergelassen. Das heisst, wir haben eine Bar, die halb geschlossen und halb geöffnet ist. Das hat etwas Spontanes, denn es gibt daneben im Buch ganz geschlossene und ganz geöffnete Bars. Das interessiert mich sehr. Zsuzsanna Gahse erwähnt das in ihrem Text auch, wo sie davon spricht, dass die Bars geschlossen und offen sein können. Die offene Bar funktioniert als Einladung, auf die ich eingehen kann oder nicht. Die geschlossene Bar geht jedoch vielleicht nie mehr auf. Und das hat viel mit BAR zu tun, denn BAR bedeutet vom Wort her ja auch Trennung. Die Fassade oder der Eingang ist die Trennung oder die Barriere, und mit ihr die Schwelle, über welche man beim Hineingehen oder Hinausgehen tritt. Auf der Schwelle spürt man die Grenze zwischen Innen und Aussen sehr schön. BAR bedeutet ursprünglich auch die Trennung zwischen dem Kellner und dem Gast. Also ist der Bartresen wiederum ein Raumteiler – im übrigen ein angenehmer, auf dem man sich gerne mal abstützt ...
B: Hat BAR auch etwas Erotisches?
K: Ja ...
B: In welcher Beziehung?
K: Das hat mit den privaten und intimen Abläufen zu tun, welche in der Bar stattfinden. In der Bar findet ein Theater statt. Die Konventionen und die Spielregeln sind bekannt, der Bar-Keeper fragt dich, was möchtest du gerne trinken, du sagst es ihm, in einer bestimmten Art, und die ist wichtig, denn, wie du es sagst, kannst du sehr viel mitteilen, wie es dir geht zum Beispiel, und der neben dir an der Theke bekommt das mit, weil du ihm nahe bist, du kannst diesem fremden Menschen körperlich sehr nahe sein ... und da finde ich, besteht viel Spannung. Und wenn man will, kann man das schon frühmorgens erleben und muss nicht warten, bis es Abend wird ... also das trifft auf die italienischen Bars zu ... (lacht) B: Aber genau das zeigst du nicht ...
K: Nein ...
B: ... aber du weist darauf hin. Also, das mag Zufall sein, aber darum frage ich – Dieses da zum Beispiel ...
K: Was? Zeig mal.
B: ...
K: (lacht) Ah – diese 6 da!
B: … Also, ich weiss nicht. Vielleicht ist das meine Fantasie, die da sehr angeregt ist ... Ich versuche nur, diese Fassaden in Bezug auf einen Inhalt hin zu lesen. Wie du selber gesagt hast, kann die Fassade etwas darüber aussagen, wie es drinnen ist. Und dann beginnen solche Details eine Rolle zu spielen. Aber es ist bestimmt ein Zufall ...
K: Nein, warum? In dieser Bar läuft ziemlich viel in dieser Beziehung.
B: Tatsächlich?
K: Das ist eine gut frequentierte Quartier-Bar in der genuesischen Altstadt. Das Publikum kennt sich da gegenseitig sehr gut. Die Frau, die eben die Schwelle reinigt, ist die damalige Besitzerin. Auf der Scheibe kann ich den Hinweis auf einen internen Saal – "sala interna” – lesen, und das ist alles. Sehen kann ich vom Innern fast nichts. Der halb heruntergelassene Rolladen verstärkt das noch. Und dann ist da dieser tiefschwarze Eingang, das dunkle Loch. Das finde ich erotisch. Von dieser Bar habe ich mehrere Bilder und ich konnte die zwei besten auswählen.
B: Wie bist du bei der Auswahl vorgegangen? Gab es Kriterien des Linearen, Malerischen, Koloristischen?
K: Auf jeden Fall. Das Buch zu machen – das war ein zweiter Schritt. Es gibt beispielsweise Bilder, die ich vom fotografischen, malerischen oder farblichen ... Aspekt her sehr gut mag, die trotzdem im Buch nicht vorkommen, weil sie als einzelne Bilder den Ablauf des Buches gestört hätten. Da spielten noch andere Kriterien eine Rolle. Die Bilder im Buch folgen einer Art Reise vom Norden in den Süden und sollten daher auch formal diese Geschichte mitschreiben. Die kühle Bar im Norden von Italien, Mailand, dann das ewig Dunkle der Hafenstadt Genua, das Liebliche der Toscana, weiter bis in den Süden, wo so etwas wie ein Bruch entsteht, etwas auseinanderfällt ... wo das Bild der Bar unsicher wird, so unsicher, dass man gar nicht in die Bar hineinmöchte. Wie zum Beispiel hier, diese Bar ist nicht mal angeschrieben.
B: Hast du Bars auch schon als unsicheren Ort erlebt ... in Italien?
K: Ja, sicher.
B: Ist das auch ein Teil, der im Buch vorkommt?
K: Ja. Dieses Bild am Bahnhof von Neapel zum Beispiel könnte für einen solchen Ort stehen. In diese Bar möchte ich nicht unbedingt hineingehen. Aber das Bild gefällt mir architektonisch, ich sehe einen zweiten Boden im Raum und das durch die gläserne Fassade hindurch und drinnen herrscht grünblaues Neonlicht ... zwei Männer stehen da ... das ist eine Verheissung, die mich anzieht und gleichzeitig verunsichert. Aber dann kann es sein, dass die BAR vorwiegend positiv besetzt ist. Ich erblicke irgendwo die drei Buchstaben, ich erblicke etwas Tolles. Es ist das Bild von etwas Äusserem. Aber in jedem Fall beginne ich etwas in diese Fassade hinein zu projizieren.
B: Interessant an dem Buch ist auch, dass es während elf Jahren entstanden ist, und man sieht es ihm nicht unbedingt an ... Es könnte auch innerhalb von drei Monaten passiert sein, anlässlich einer intensiven Reise durch Italien.
K: Warum?
B: Diese vielen kleinen Elemente, die den Bar-Eingang charakterisieren ... sind immer da, sie verändern sich nicht, sie haben immer dieselbe Patina ... Einige sogar eine ausgesprochene ... Bei diesen Bildern gelingt dir auch etwas, was eindeutig über das Wiedererkennen von BAR hinausgeht, wo das Bild eine Selbständigkeit bekommt, die ausgesprochen spannend ist ...
K: Genau dies trifft das Spezifische des Mediums, das mich interessiert. Du hast gesagt, dass du diese Arbeit gut in meine sonstige künstlerische Arbeit integrieren kannst. Auch dass ich mir die Aufgabe gestellt habe, über mehrere Jahre hinweg Bars zu fotografieren und daraus ein Buch zu machen. Neu sei für dich das Medium – das Arbeiten mit dem Fotoapparat.
B: Ja.
K: Ich habe bei dieser Arbeit gemerkt, dass ich keinen sehr grossen Unterschied empfinde, ob ich mit dem Medium der «Malerei» oder der «Fotografie» arbeite. Es muss mir einfach möglich sein, das zu tun, was mich interessiert. Wenn ich beispielsweise mit Farben auf eine «malerische» Art und Weise auf Räume reagiere oder in diese eingreife, so frage ich damit nach neuen Lesbarkeiten oder neuen Raumerfahrungen. Dann ist der Farbeingriff ein Instrument in einer dreidimensionalen Situation. Letztlich jedoch interessiert mich aber auch da das Bild, welches sich in der Vorstellung zusammenzusetzen beginnt. Oder wenn ich tausende von unterschiedlich farbig bemalten Papieren über Monate hinweg sammle, auswähle und zu einem offenen Bildsystem zusammenstelle – so scheint mir diese Arbeitsanordnung nicht so weit entfernt von dem Vorgehen, wie sie durch die BAR-Arbeit definiert ist. Der Unterschied ist, dass ich fotografisch sammle und dass die Sammlung um einen Begriff kreist.
Das Spannende am Fotografieren – und insbesondere am Schnappschuss – ist der dunkle Bereich. Beim Abdrücken entsteht das Material – es ist der Teil des Machens, die "Tat” und in dem Augenblick weiss ich nicht genau, was ich erhalten werde oder wie das Bild aussehen wird. ... Aus diesem Grund drücke ich immer mehrmals ab, am liebsten sechs Mal. Nachher, beim Vergleichen und Auswählen des Materials – da kommt dann die Idee und das Andere ... dabei möchte ich mir viel Zeit nehmen... ich habe mir hier ja mehr als zehn Jahre Zeit genommen ...
B: Wie steht es mit der Entscheidung von kleinen und grossen Bildern im Buch?
K: Sie präzisiert die Auswahl und die Ordnung der Bilder ... und ich wollte intuitiv den Fluss des Buches da und dort unterbrechen, wollte Wertungen vornehmen, in dem Sinn auf die Betrachtung Einfluss nehmen. Das unterstützen auch die weissen, "leeren” Seiten, die Raum und Rhythmus schaffen ... ich erinnere mich an einen frühen Film von Jim Jarmusch mit schwarzen Zwischenschnitten ...
B. ... Stranger Than Paradise ...
K: Genau. Daran habe ich gedacht.
B: Ich glaube, dass du eine gewisse Systematik brauchst. ... Wenn du sagst, dass du sechsmal abdrücken musst, dann hat das mit dieser Systematik zu tun. Genauso wie du sagst, ich entscheide mich, elf Jahre lang italienische Bars zu fotografieren. Das macht jemand anderer nicht. Jemand anderer sagt, ich fotografiere einfach, was mir gefällt und anschliessend mache ich daraus ein Buch. Vielleicht brauchst du für dich diese Systematik, wie wenn du dich zum Beispiel entscheidest, etwas mit Propeller oder mit farbigen Fäden zu machen. Das ist deine persönliche konzeptuelle Entscheidung. Ich finde, das passt sehr gut, dass du sechsmal abdrückst ...
K: Es hat halt sechsundreissig Bilder auf einem Film ... in der Regel ... (lacht) ... und dann sind die Negativstreifen in Sechserstreifen geschnitten ...
B: (lacht) ... Ja. Das ist doch super! Siehst du, das passt total zu dir ...
K: ... und dann finde ich es nicht nett vom Labor, wenn sie diese Sechserordnung falsch verschneiden ... (lacht) ... Ich finde das praktisch.
B: Wann hast du dich entschieden, mit dem Fotomaterial ein Buch machen?
K: Ungefähr nach vier Jahren, nachdem ich begonnen hatte, Bars zu fotografieren, entschied ich mich, diese Bilder nicht auszustellen, bevor sie in einem Buch abgebildet sind. Das heisst, diese Bilder existieren als fotografische Arbeiten noch nicht. Wenn ich nun angefragt werde, diese Bilder auszustellen, muss ich mir überlegen, wie ich sie ausstellen will. ... Und ich fotografiere immer noch Bars. Das sage ich deshalb, weil für mich das Thema mit dem Buch nicht abgeschlossen ist. Das Buch bezeichnet einen Ausschnitt aus der gesamten Arbeit. Auch zeitlich.
Mit der Realisation des Buches begann ich vor drei Jahren. Das Buch hat – unter anderem – auch so viel Zeit in Anspruch genommen, weil ich mir für die Entscheidung des Verlegers viel Zeit gelassen habe. Bis ich das Gefühl gehabt habe, es stimmt. Und mit Patrick Frey stimmt es. ... Ich hatte absolut freie Hand ... Und hier möchte ich Anna Müller erwähnen, mit deren Mitarbeit und Mitdenken das Design des Buches realisiert wurde. Sie trägt für die Umsetzung und die Feinarbeit die Verantwortung.
B: Wie bist du zu den Texten gekommen? Haben die Autorinnen frei geschrieben?
K: Wir haben Gespräche geführt. Ich wollte, dass sie möglichst frei schreiben. Beide Autorinnen haben ihre Texte geschrieben, ohne das Buch gesehen zu haben. Sie haben auch gar nicht so viele Bilder gesehen ... Sie haben z.B. das Gestaltungsprinzip – grosse Abbildungen, kleine Abbildungen, den Rhythmus, die Auswahl und Anzahl der Bilder – nicht gekannt. ... Eigentlich wollte ich das so, d.h., es gefällt mir, dass die Texte nicht auf das Buch referieren, sie sollten autonom sein und in der Form literarisch. Ich habe die beiden Autorinnen entsprechend ausgewählt und spezifisch angefragt. Viana Conti aus Genua, eine aktive Dame mit grosser, langjähriger Erfahrung im Kunstkontext, ist zudem beruflich Kuratorin von zeitgenössischen Ausstellungen. Sie schreibt in ihrem Text sehr erzählerisch, assoziativ, auch aus italienischer Sicht ... Zsuzsanna Gahse hat mich vom Ansatz her, wie sie schreibt, interessiert. Irgendwie hatte ich bei ihr das Gefühl, dass sie in einer ähnlichen Art schreibt wie ich Bilder mache ...
B: Ich finde den Text von Zsuzsanna interessant, weil er in gewisser Weise das beschreibt, was die Fotografie weglässt ... nämlich, was passiert, wenn ich in eine Bar gehe, was dort drinnen passiert. Es ist wie eine Weiterführung oder die Imagination von dem, was du nicht zeigst.
K: Das ist auch ein Grund, weshalb wir ihren Text den Bildern nachgestellt haben. Viana Conti hingegen schreibt mehr vom Bild, vom Standpunkt, von den Bedeutungen, den Zeichen und der Symbolik der Bars. Ihr Text funktioniert gut am Anfang ... Manchmal frage ich mich, warum ich nie in eine Bar hineingehe, um ein Bild zu machen.
B: BAR ist etwas Offenes, vielleicht auch etwas Tolerantes. Aber – überall, wo etwas ist, gibt es auch das Gegenteil. Vielleicht hättest du das Gegenteil stärker provoziert, wenn du hineingegangen wärst ... vielleicht hättest du den Bars das Geheimnis genommen ... vielleicht hättest du die Imaginationskraft des Betrachters "unterwandert”, wenn du das Innere gezeigt hättest. Du hättest es offengelegt – und so muss man es sich immer vorstellen, einbilden. Wie sind diese Bars? Kenne ich sie schon? ...
K: Stimmt. Und es gibt noch einen anderen Grund: In einer Bar geht es um die Begegnung mit den Menschen – und das ist bei diesen Bildern nicht das Thema. BAR ist ein Sinnbild für ein kulturelles Ereignis und die Fassade weist in ihrer immer wieder unterschiedlichen und individuellen Ästhetik darauf hin. Das äussere Erscheinungsbild funktioniert als Projektionsfläche. Denn was interessiert mich ein Fanta-Kleber für sich allein? Verschiedene Flaschen, die man im Schaufenster sieht? Ein schwarzes Loch? – Aber mit der Verknüpfung, mit der Beziehung zum Begriff BAR, mit diesem Code, ist es kein blosses "Fanta-Zettelchen”, sind es nicht mehr irgendwelche "Flaschen”, ist es kein blosses "schwarzes Loch” mehr. In der Verknüpfung der beiden Ebenen geschieht etwas Spannendes! Es ist das, was mich interessiert.
17. April 2000

Monika Kiss Horvath; BAR IN ITALIA 1987-1998
Edition Patrick Frey 2000 c/o SCALO
138 Seiten, 94 Farbabbildungen
Texte von Viana Conti und Zsuzsanna Gahse (italienisch/englisch und deutsch/englisch)
Design von Monika Kiss Horvath und Anna Müller, Zürich
ISBN 3-905509-27-X

publishers@scalo.com, www.scalo.com
m.kiss.horvath@bluewin.ch