Marion Strunk

Vom Subjekt zum Projekt. Kollaborierte Environments


Innovationen werden von Einzelnen vollbracht, heisst es, doch was sie für ihre Ideen oder Gedanken halten, ist nicht ihr einzigartiges, persönliches Eigentum. Das Neue gibt es nicht als das Noch-nie-Dagewesene oder als das ganz Andere. Was einmal gedacht wurde, kann wieder gedacht werden, alle wissen es: Personen, schreibende, malende, filmende, musizierende und alle anderen eignen sich Ideen und Gedanken an, machen Dichtung, verdichten und verlieren dabei die Anführungszeichen. Es kommt nicht darauf an, etwas neu zu erfinden, denn alles ist vorhanden und noch viel mehr. Es kommt darauf an, das eine mit dem anderen zu verbinden, und ein Band zu weben, das die einzelnen Elemente zusammenhält. Begriffe wie das "Wahre" oder "Falsche" verlieren darin ihren Sinn. "Drum klaut Ideen und verschenkt die besten!", heisst es im "Ersten Manifest grosser und angesehener Künstlerinnen", Basel 1999.
In der gegenwärtigen theoretischen Kritik findet die Idee von der Autonomie des Subjekts aus der klassischen Philosophie keine Bestätigung. Hatte die Moderne ihre Einheit in Form von Weltbildern entworfen, die eine gemeinsame Identität festschrieben, kann im aktuellen Diskurs keine und keiner eine Legitimation ausmachen, über das Ganze zu sprechen. Zwei miteinander in Konflikt stehende und voneinander abhängige Strömungen können sich anscheinend nicht mehr dialektisch aufeinander beziehen, um in einer Synthese aufgehoben zu werden. Das moderne Konstrukt des vereinheitlichten und scheinbar autonomen Subjekts ist erstarrt und im Stupor gefangen, unflexibel in die Versprechen der Erlösung verstrickt, aus denen es als enttäuschtes, melancholisches Ich hervorkommen konnte. Autonomie wird als Vorstellung der Unabhängigkeit absurd. Die Sub-jekte sind – schon der Begriff zeigt es – unterworfen. Das aus sich schöpfende Individuum – im 19. Jahrhundert als das männliche Genie dargestellt – ist schon längst in den Mythos aufgegangen. Gleichzeitig entwerfen sich die Einzelnen im konkreten Leben, im Denken und Handeln. Ein individueller Anspruch auf allgemeine Wahrheit würde hierbei naiv und lächerlich sein.
In der Frage nach dem Subjekt hat eine Verschiebung stattgefunden: Das Subjektsein bestätigt sich nicht mehr im Bewahren von einmal gelernten Tugenden oder Idealen, sondern im Bewähren des Verschiedenen. Die Erfahrung des Bruchs, der Fragmentierung des einen in vieles, verliert dabei ihren ängstigenden Anteil. Unsicherheiten auszuhalten, Unbestimmtes und verwirrende Vielfalt, erscheint ungleich schwieriger als ewige Wahrheiten anzunehmen. Das heutige Verständnis von Identität besteht hauptsächlich darin, die Festlegung auf eine Identität zu vermeiden und die Bewegung des Verschiedenen, auch die Schwankungen und Ambivalenzen, aufzunehmen. Die Fähigkeit, Unterschiedliches miteinander zu verbinden, wäre das Wagnis, die Probe und die Herausforderung. Also den Zustand oder Umgang auszuprobieren, der sich in der Wiederholung als Thema der Unterschiede situiert und die Verschiebung der Wahrheit in das Unbestimmbare zulässt. Der Unterschied, den die Wiederholung setzt, besteht in der Konzentration auf das Gegenwärtige mit offenem Ausgang und radikalisiert den Demokratiegedanken ohne vertagbare Alternativen. Das Neue entsteht also aus der Verknüpfung und den Falten, worin die Ereignisse nicht zu zeitlichen Begriffen, sondern zu räumlichen Momenten organisiert werden, was eine pragmatische Strategie des Handelns ist.
Dem Personenkult um das autonome Subjekt, der Verherrlichung des schöpferischen Autors im Geiste Pygmalions, wird mit der Debatte um den Tod des Autors eine andere Ansicht gegenübergesetzt, die um 1968 mit Roland Barthes' Text: "La Mort de l'Auteur" aufgenommen wurde.(1) Die Dekonstruktion des Mythos vom originellen Autor. Der Begriff des Autors ist immer noch mit dem des Genies verbunden, als phallozentrisches Konzept. Ein weibliches Genie gilt als absurde Wendung. Wenn Gertrude Stein in den 30er Jahren sagt: "Ich bin ein Genie", galt dies als zynisch, bestenfalls als ironisch.
Zwischen Text und Autor wird eine Trennung gezogen, die den Text von der biografischen Stimme abgrenzt. Die Autorität des Autors verschiebt sich in die des Textes, der Autor wird Medium der Sprache und Schrift. Die Sprache artikuliert sich in den Sprechenden. In die Sprache bleiben sie integriert wie in eine Gesellschaft. Wie die Einzelnen die Sprache nicht vollkommen kontrollieren können, so können sie nur versuchen, den gewählten Worten eine bestimmte Bedeutung zu geben, um das zu sagen, was sie wollen. Das Original kann es in dem Sinne des Neuen nicht geben. Gedanken und Ideen sind Teile eines Spiels mit den Unterschieden. Über die Person spricht die Sprache sich selbst, schreibt die Schrift sich selbst. Wobei Schrift nicht mehr das nachträgliche Aufschreiben eines vorgängigen Sprechens oder Denkens meint, was mit Autorschaft gleichgesetzt wird, sondern den Akt des Schreibens selbst, die Inskription, wie Barthes dies nennt. Sprachspiele. Auch Sprachbilder und Bildsprachen. Bildspiele. Der Autor als Mediator, Vermittler und Agent der Innovation. Die Betrachtung zum Beispiel von Texten soll nicht der Spur des Autors folgen, seine Intentionen aufspüren, sie wird sich auf eigene Weise gegenüber dem Text verhalten, durch ihre Intensität den Text erst hervorbringen: Der Text wie das Bild entsteht mit den Betrachtenden und bringt sie aktiv ins Spiel. Die Rezipientinnen und Rezipienten werden zu Autorinnen und Autoren.

Die Kritik an der Autorposition hat eine lange Tradition, aber spätestens mit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich ein anderes Selbstverständnis herausgebildet, dem sich die Debatte um die Frage nach dem Autor im 20. Jahrhundert angeschlossen hat. Im Kontext der Kunst steht die Frage nach dem Künstler-Subjekt. Bei Lautréamont (Jeder ein Autor) zeigt sich schon skizzenhaft, was später Programm wird: das Konzept einer kollektiven Autorschaft. (Auch einer tendentiell anonymen Autorschaft, wobei Anonymität zunächst als etwas Beunruhigendes galt und nur als Doppelname akzeptiert wurde: das Künstlerpaar.) Für die Einzelnen bedeutet dies, dass sie mit dem arbeiten, was bekannt ist: Sie werden Kompilatoren und Arrangeure und bleiben keine Schöpfer mehr. Texte generieren Texte. Jorge Luis Borges spricht von den Autoren als Summe der von ihnen gelesenen Bücher. Kunst wird zur Voraussetzung für Kunst. Die Einzelnen sind das Ensemble ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse – vielfältig und different. Ein Subjekt im Plural.
Im Kunstkontext hat die Debatte um den Tod des Autors Diskurse und Praktiken der Appropriation hervorgebracht, wie sie Sherrie Levine oder Eliane Sturtevant präsentieren, die die Geste der Appropriation radikal zu ihrem Thema gemacht und zur Anschauung gebracht haben: Sie wählen aus, was ihnen gefällt. Sie setzen Kennzeichen wie eine Signatur: "after Duchamp". Und sie zeigen, wie die Form in der Wiederholung selbst zu leben beginnt und die Differenzen hervorbringt.
Walter Benjamin hatte 1934 in Auseinandersetzung mit dem 'zeitgemässen', epischen Theater von Bertolt Brecht vom Autor als Produzent (2) gesprochen: "Seine Arbeit wird niemals nur die Arbeit an den Produkten, sondern stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion besitzen. Und keineswegs hat ihre organisatorische Verwertbarkeit sich auf ihre propagandistische zu beschränken. Die Tendenz allein tut es nicht. Der ausgezeichnete Lichtenberg hat gesagt: es kommt nicht darauf an, was für Meinungen einer hat, sondern was diese Meinungen für einen Mann aus ihm machen. – Nun kommt zwar doch auf Meinungen viel an, aber die beste nützt nichts, wenn sie nichts Nützliches aus denen macht, die sie haben. Die beste Tendenz ist falsch, wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der man ihr nachzukommen hat." Der Modellcharakter der Produktion galt ihm als massgebend: das Modell als Anleitung zur Handlung, als Aufforderung zur Mitarbeit, als Verwandlung der Konsumenten in Produzenten, die sich ihrer Mittel bewusst sind.
Michel Foucault stellte 1979 die Frage: Was ist ein Autor? (3) Die These von Barthes fortschreibend, stimmte er zu, dass das Thema Individualität des Autors problematisch ist, ohne aber gleich von dem absoluten Verschwinden des Autors auszugehen. "Was man tun müsste, wäre, den durch das Verschwinden des Autors freigewordenen Raum ausfindig zu machen, der Verteilung der Lücken und Risse nachzugehen und die freien Stellen und Funktionen, die dieses Verschwinden sichtbar macht, auszukundschaften." Die Hervorhebung der Funktion des Autors setzt Foucault hinzu, um darin "das Ereignis eines gewissen Diskurses" sichtbar zu machen. Sein Vorschlag ist, die Autor-Funktion über das Werk hinaus als eine "transdiskursive Position" zu bestimmen. Die Namen der Autoren stehen für eine "Diskursivitätsgründung", die eine Reihe von Unterschieden möglich macht. "Sie haben Raum gegeben für etwas anderes als sie selbst, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben. (...) Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Diskurse verbreitet oder rezipiert werden ohne dass die Funktion des Autors jemals erschiene. (...) Dafür wird man hören: Welche Existenzbedingungen hat der Diskurs? Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann ihn sich aneignen?" Ein Autor ist die Person, die aus den nicht zu Ende geführten Diskursen etwas noch nicht Gesehenes, noch nicht Gekanntes montiert wie einen Film, also mit dem vorliegenden Material durch Arrangements Altes anders und deshalb neu in den Diskurs einbringt und zur Verfügung stellt. Dass diese Vorschläge allgemeine Gültigkeit hätten oder von Dauer wären, kann nur in einem Traum von der Unsterblichkeit enden. So wie die Geschichten ist auch der Autor Fiktion. Referenzfigur. Name.
Autorschaft anzuerkennen bedeutet nicht, die Individualisierung in der Kulturgeschichte zu bestätigen. Es bedeutet vielmehr, die Positionierung von Einzelnen als unverzichtbar in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition anzunehmen. Innovation ist in diesem Sinne eine Markierung der Unterschiede zur Tradition. Kreativität zeigt sich darin als jener Rest an Subjektivität, immer wieder verschiedene Fragmente als Spiele zu entwickeln. Die Spielenden produzieren Möglichkeiten, die im offenen Raum ohne Idol und ohne Ideologie auskommen, die keine Vorbilder werden, aber Bilder – subjektive Wirklichkeiten, Konstruktionen. Spiele sind aber auch Verführungen, sie richten sich an den oder die Andere und nicht an eine Allgemeinheit, und bewahren Unterschiede. Das ist keine Sache des Neuen oder ganz Anderen, es ist eine der Interaktion im Dialog.
Dem Konzept vom Autor ist das vom Werk inhärent (Autor=Werk=©.) Der Begriff Werk fasst das Einsein und die Aura des Autors zusammen und hält sie fest in der Urheberschaft oder Einmaligkeit, eingeprägt durch die Einzelsignatur. (4) "Wie kann man aus den Millionen Spuren, die ein Einzelner hinterlassen hat, ein Werk bestimmen?", fragt Foucault. "Die Werktheorie existiert nicht und denen, die naiv beginnen, ein Werk herauszugeben, fehlt eine solche Theorie, so dass ihre empirische Arbeit deshalb sehr rasch ins Stocken gerät." Begriffe wie Geschlossenheit, Unveränderbarkeit und Endgültigkeit sind dem Werk eingeschrieben und sichern den ökonomischen Wert wie der Stil die Einmaligkeit.
Mit der Kritik an der Macht der Einzelnen und der Verfügungsgewalt über das Werk, der Totalisierung von Autor und Werk, von Präsentation und Repräsentation, von Signifikant und Signifikat hat sich gezeigt, dass einerseits der Autor dem Werk weder vorausgeht noch dass es von ihm erschaffen wird: Der Autor gehört dem Werk in dem Masse an wie er darin untergeht. Vom Verschwinden des Autors zu sprechen, meint das Schwinden seiner Autorität und die Relativierung des Schöpfungsgedankens. Mehr als ein Identischsein mit dem Werk, für das der Name steht, kann wohl nicht erreicht werden. Auch die Fetischisierung des Werkes als ein Ganzes hat sich aufgelöst. Heute spricht keine und keiner mehr von 'Werk', sondern von 'künstlerischer Arbeit' oder 'Produktion', was über Kunst aussagt, dass sie erarbeitet ist.
In seinem Essay über Flauberts 'Versuchung' sagt Foucault, dass "die bereits gesagten Worte, die überprüften Texte, die Massen an winzigen Informationen, Parzellen von Monumenten, Reproduktionen von Reproduktionen, der modernen Erfahrung die Mächte des Unmöglichen zutragen. Nur noch das ständige Raunen der Wiederholung kann uns überliefern, was nur ein einziges Mal stattgefunden hat. Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen, um es abzuleugnen oder um es zu kompensieren; es dehnt sich aus, im Spielraum des noch einmal Gesagten und der Kommentare; es entsteht und bildet sich heraus im Zwischenraum der Texte." (5)
Die Kunst kann nicht das sein, was schöpferisch sein soll. Sie kann vielmehr als ein dynamisches System bezeichnet werden, das unter Anleitung einer Regie – von Künstlerinnen und Künstlern zum Beispiel – strukturiert und als Position vorgestellt werden kann. Lyotard nennt dies Übersetzung. (6) Die Übersetzenden können die Vorgabe modifizieren und für andere Lektüren öffnen oder sie in ihrer Unlesbarkeit belassen, mit anderem vernetzen oder gar von ihr wegführen oder ihr widersprechen. Das Interesse an ihr ist kein hermeneutisches, es ist ein konstruktives, konzeptuelles, mit dem Strategien entfaltet werden. Diese führen zu Fragen, ohne dass Antworten bereit wären. "Wir bilden uns nicht mehr ein, dass wir die Welt und uns selbst als 'Wirklichkeit' wahrnehmen, sondern eher, dass wir selbst das Wahrgenommene erst zu Wirklichkeit prozessieren. Wir sehen daher in unserem Leben nicht mehr die Bewegung, welche gegebene Wirklichkeiten verändert -– etwa Dinge und uns selbst –, sondern eher eine Tendenz, gegebene Möglichkeiten in uns drinnen und um uns herum zu verwirklichen. Das heisst, unsere Werte sind nicht mehr die der Arbeit, sondern die der Kreativität qua Komputation von Informationen", sagt Vilém Flusser. (7)
Eine andere Position, die von einer kollektiven Autorenschaft ausgeht, ist die des Konzepts der Autopoiesis, der Selbstorganisation sozialer und kultureller Systeme, das von Maturana, Varela oder Luhmann entwickelt wurde: "Autopoietische Systeme sind als operativ geschlossenes Netzwerk von Komponenten oder Elementen definiert, die durch die Interaktion der Elemente, aus denen sie bestehen, diese Elemente selbst erzeugen. Autopoietische Systeme sind daher selbsterhaltend und selbstorganisierend, selbsterzeugend; ihre Komponenten bilden füreinander jeweils die Anfangs- und Anschlussbedingungen und so einen rekursiven Zyklus. Sie sind selbstreferentiell, weil sie die Zustände der Elemente in operational geschlossener Weise verändern." (8)
Verhalten sich die Einzelnen, die Subjekte, in unterschiedlichen Systemen autopoietisch, so entwickeln sie spezifische Systeme in spezifischen Kontexten, womit ein anderes nicht autonomes Subjektverständnis verbunden ist: Das Subjekt kann sich nicht mehr auf definierte, festgelegte gesellschaftliche Strukturen und Werte beziehen wie eine Kopie auf das Original. Die Einzelnen können sich das 'sie selbst bereichernde Material' nach selbstgewählten Kriterien aneignen. Eine allgemeine, historisch universelle Bedeutung können sie dabei nicht verwirklichen. Daher ist es nicht möglich, verbindliche Sinnvermittlungen zu formulieren, denn die Einzelnen können Informationen nicht erzeugen oder erschaffen, sie können sie steuern. Personen können keinen Sinn mehr übertragen, denn Sinn kann ermöglicht oder gefunden, jedoch nicht gegeben werden. Das Konzept der Autopoiesis beschäftigt sich nicht mehr mit den Dekonstruktionen der gesellschaftlichen Konstrukte, es geht darin vielmehr um die Kreation verschiedener Möglichkeiten unter spezifischen Bedingungen. Das wird auch mit "gesellschaftlichem Handeln in entsprechenden Systemzusammenhängen" beschrieben, also einem Handeln, das nicht in statischen, dauerhaften, sondern in veränderbaren, kurzlebigen, wiederholbaren und sich immer wieder wandelbaren Systemen äussert. Judith Butler hat dies als Strategie der Performativität (9) bezeichnet. Das Bemühen um Veränderung, die Errungenschaft der Moderne, bleibt bestehen, nur zielt es nicht auf das eine absolute Ganze. Im Moment der Veränderung strebt es nichts an und nirgends hin, geht nur weiter, bis es wieder einen Unterschied setzt und einen Anfang macht.
War die Utopie des ganz Anderen mit der Idee der Erlösung verbunden, geschaffen aus dem Leidensschatz des Subjekts gegen den Fortschritt, ist es mit den Rückschritten im 20. Jahrhundert an seinem Ende dazu gekommen, nichts mehr zu erwarten, auch kein Ausserhalb zu imaginieren. Das Motiv der Veränderung richtet sich nicht auf Revolutionierung des Bestehenden, es richtet sich auf einen permanenten Prozess der Wandlung und Verwandlung. Keine Wende und keine Rettung. Die Ideale der Befreiung oder der Kampf für das ganz Andere scheinen ihre Wirkung verloren zu haben. Das Scheitern der Metaerzählungen der Moderne, der grossen Entwürfe des Totalen, zeigt: Das vertagende Hoffen auf eine bessere Welt, das Verlangen nach einer grundsätzlichen Alternative zur bestehenden Ordnung der Dinge bleibt eine Utopie – kein Ort. Was heute im Vordergrund steht, ist die Faszination an den verschiedenen Möglichkeiten mit ihrem offenen Ausgang. Dies hat nichts mit Identität zu tun, sondern mit Identifikation, und ist deswegen nicht subjektzentriert, sondern kontextgebunden. Für die Einzelnen könnte dies die Ausdehnung der Person in das Multiple ihrer Persönlichkeit sein, die Überschreitungen des Ichs in viele. Also kulturelle Strategien und Praktiken zu entwickeln, die sich nicht zu universalen Botschaften bündeln lassen, aber zu spontanen Gemeinsamkeiten, die vielmehr eine Ästhetik für den Alltag konstruieren, in dem sich die Unterschiede ausbreiten können, ohne sich in Ideologie oder Homogenität festzuschreiben. Die Neuzeit nennt das Kunst: Eine Tätigkeit, die Herstellung und Herausstellung ins Offene und Öffentliche ist. Positionierung von Anwesenheit, die gleichzeitig Abwesenheit markiert und von dem Blick auf das Ganze absieht.
Auch wenn Macht und Wissen Mischungen bilden, die im einzelnen unauflösbar zu sein scheinen, unterscheidet sich die Subjektivierung in der Fähigkeit, zu finden, zu entdecken und zu entfalten. Das sich so immer wieder vielfältig erfahrende und entfaltende Subjekt kann den bestehenden Verhältnissen nicht ausweichen und den Machtstrukturen nicht entkommen. Es kann anders mit ihnen umgehen, was auch eine Veränderung bewirkt. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Unterschiede, denn mit ihnen deutet sich die Gleichzeitigkeit von allem an: Innerhalb der Machtspiele kommt es darauf an, mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen, denn die Antagonismen und Widersprüche sind Bedingungen der Kreativität, nicht die der Macht. Der ästhetische Zustand, die sinnlichen Erfahrungen, beenden den eines bestimmten Typus' oder Bildes zur Beschreibung von Identität, mit dem es nicht identisch sein kann. Und was sich nicht gleich bleibt, wird schwerer fassbar und kontrollierbar. Kollektive Autorschaft kann also nicht als ein Programm entworfen werden, sondern als eine auf Vielfalt angelegte Perspektive oder Vision der Pluralität. Diese Möglichkeit verschiedener Lebenshaltungen, die von den Subjekten selbständig in unabhängigen Systemen kreiert werden, überschreitet die Tradition. – Technische Erfindungen können etwas Neues in die Welt setzen, wie es die Erfindung der Neuen Medien zeigen. Im Umgang oder Gebrauch mit ihnen sehen die neuen Technologien dann oft schnell ganz alt aus, wenn deutlich wird, in welchem Interesse sie agieren und wessen Finger im Spiel sind, denn die Technik selbst bringt nichts hervor, sie muss nur funktionieren.

II.
Im Kunstkontext sind immer wieder Kollektive gebildet worden. Dies geschah zumeist unter dem Begriff der Avantgarde, mit dem Ziel, über die Kritik an der Kunst und Kultur ein Gegenmodell zu entwickeln (Dada, Fluxus, Warhols Factory, Performance Art usw.). Im Unterschied dazu haben die gegenwärtigen Kollektive keine derartige Absicht mehr. Sie handeln situationsspezifisch im Sinne lokaler Interventionen, mit den Situationisten aus den 6oern verwandt, und haben ein anderes Kollektivsubjekt gefunden: die Projektgruppe. Das Kunstprojekt: Das Kunstwerk als grosse, individuelle Einzelleistung tritt hinter ein funktionierendes Ensemble zurück, in dem sich die Einzelnen 'synergetisch' aufeinander beziehen und spezialisiert auf bestimmte Fragestellungen ihre Positionen einbringen, womit Arbeitsweisen übernommen werden, wie sie in der Filmgestaltung oder der Teamarbeit vorkommen. Inzwischen sind diese Arbeitsweisen in die Wirtschaft inkorporiert.
Hintergrund für diese Entwicklung ist neben der Diskurskritik und den spontanen Gruppierungen der politischen 68er Jahre heute die Entwicklung der digitalen, die globale Kommunikation fördernden Technologien, in denen sich die Einzelnen als pragmatisch Handelnde erfahren, soziales Handeln als Flexibilität und selbstbestimmte Aktivität auf der Basis von sozialer Interaktion verstehen. Wissen, nicht Wissenschaft, jenseits der Disziplin. Wissenskulturen. Laborsituationen. Interdisziplinarität oder – modischer formuliert – Crossover. 'High and Low' sind nicht mehr voneinander getrennt. Die Produktion wird wichtiger als das Produkt. Das ästhetische Objekt ist das Projekt. Networking. Die Methoden sind Switching, Sampling, Morphing. Auswahl und Verknüpfung. Copy, Cut & Paste. Mode ist Kunst und Kunst ist Mode. Netzwerk statt Kunstwerk. KünstlerInnen installieren Bars, kochen und forschen, exponieren sich als Stars und schlafen im Museum (wie z. B. das Kollektiv PAC, das für zwei Monate im Migros-Museum Zürich lebte: Jan/Feb 2000).
Mit den neuen Technologien kann vergrössert werden wie mit der Lupe, was immer schon stattgefunden hat: das Arbeiten in der Gruppe. Teamarbeit. Kollaborative Environments. Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden, denn die Gruppen gründen sich im losen Plural, unideologisch, stillos, vorübergehend und auf jeden Wechsel gefasst. Der alte Wunsch nach Gemeinsamkeit, im Gegensatz zur einsamen künstlerischen Arbeit, zeigt sich mit den Projekten, allerdings ist ihm seine idealistische Seite genommen. Die heutigen ökonomischen Bedingungen erzwingen Flexibilität – auch im Kunstkontext. Die Gruppen sind keine Alternative zur 'bestehenden Ordnung', sie sind eine 'Versuchsanordnung', ein weites Feld des Probehandelns. Das optimistische "Wir", Kürzel für Solidarität im klassischen Sinn, ist dabei verloren gegangen. Keine Fahne und kein Verein für das Ganze, kein Beitritt in eine Internationale. Die Einzelnen gehen nicht in der Gruppe unter, sie kommen vielmehr erst durch sie hervor. Das soziale Interesse tritt an die Stelle des Politischen, oder der Begriff des Politischen bekommt eine andere Bedeutung: Nicht mehr die Kritik an der Gesellschaft, sondern die Bildung kleiner Gesellschaften, eben Kollektiven, die für sich Alternativen bilden. In Zürich waren das zum Beispiel die Projekte HOTEL, KLINIK – Morphing Systems, Hermann oder message salon. Diese Selbstorganisationen orientieren sich an den konkreten Lebensvorstellungen, die sich aus Lebensumständen ergeben und zu pragmatischen Handeln führen, zu performativen Praktiken.
Der Projektkunst der Neunziger (10) geht es nicht mehr um die Erweiterung des Kunstbegriffs oder um die Frage nach dem Kunststatus, es geht um einen Handlungsraum, der ein Konglomerat aus Idee, Umsetzung, Präsentation und Rezeption bzw. Vermittlung geworden ist – in jeder Hinsicht vielfältig und multimedial. Offene Formen der Zusammenarbeit im Kontext kultureller Möglichkeiten, etwa wie der Saustall von Trockel/Höller auf der documenta X, Services von Draxel/Fraser, die OFFENE BIBLIOTHEK von Clegg & Guttmann, Cittadelarte von M. Pistoletto, der eine Sammlung von künstlerischen Arbeiten vorstellt, also selbst nichts mehr herstellt, Gruppo Oreste oder die Guerilla Girls: anonyme Künstlerinnen in Gorilla-Masken, die in den Medien und auf der Strasse gegen Rassismus und Geschlechterdiskriminierung kämpfen und institutionskritisch agieren, nachts Flyer auf New Yorker Museumswände kleben ("Do women have to be naked to get into the met. Museum?") oder zu Symposien reisen, reden und Bananen essen. Handlungsformen werden wichtiger als Ausdrucksweisen; etwa für Sculpture Chicago-Cultur in Action, Chicago 1992/93, Sonsbeek, Arnheim 1993, INTEGRALe Kunstprojekte, Berlin 1993. Die Gruppe Haha hat für die AIDS-Erkrankten einen Gemüsegarten angelegt. Das Projekt Park Fiktion will sich um lokale Notwendigkeiten kümmern, WochenKlausur organisiert soziale Interventionen für Obdachlose in Wien. (11) "KünstlerInnen-Initiativen haben gegenüber Sozialarbeitern einige Vorteile. Sie benutzen ihre Institutionen. Das mediale und bildungspolitische Kapital dieser Institutionen ermöglicht aufgrund des gesellschaftlichen Stellenwerts von Kultur einen schnellen und unbürokratischen Zugang zu Entscheidungsträgern. Lästige Instanzenwege können so umschifft werden. Der begrenzte Projekteinsatz setzt Energieschübe frei und beschleunigt die Realisierung." (12)
Projekte, die zu sozialen Aktionen werden, erweitern ihren Wirkungsradius über den Kunstkontext hinaus. Oder sie bieten Serviceleistungen – Kunst als Dienstleistung – im öffentlichen Raum an: Gegenöffentlichkeit und Gebrauchswert, etwa wie Hybrid WorkSpace, Agentur Bilwelt oder BüroBert. Diesen Projekten ist, ohne sie auf einen Nenner zu bringen, der Begriff des Modells gemeinsam, modelmaking, Praxismodell, allerdings nicht im Sinne von Vorbild, eher als ein Entwurf. Der Dienstleistungsbegriff wird hierbei ironisch gesetzt. Diese Projekte geraten aber möglicherweise in eine Falle, wenn sie den Widerspruch nicht aushalten können, dass sie von Institutionen nur akzeptiert werden, wenn sie deren Image polieren. Entscheidend ist aber, dass eine sogenannte künstlerische Handschrift, eben ein Stil, vermieden wird. In den Crossovers wird sichtbar, dass alle mit allem und allen eine Verbindung eingehen können, wie es ihnen gefällt.
Ob diese Projekte als Störungsdienste oder als Entstörungsdienste (13) fungieren, hängt wie bei jeder Kunst von der Beharrlichkeit ab, sich nicht von den Mainstream-Bedingungen vereinnahmen zu lassen, denn auch Projekte können einen Wert bekommen wie Tafelbilder. Die Öffentlichkeit, für deren kritische Information die kulturellen Praktiken zu intervenieren vorgeben, könnte nur zum Vehikel werden, das Wohlwollen der Geldgeber zu fördern, die aus den ProjektkünstlerInnen eine hippe, bunte Eventkultur machen wollen. Projektkultur wäre dann nur eine Erweiterung des Repertoires oder sie stünde in der Tradition von Duchamps ready mades: wie zum Beispiel Rirkit Tiravanija, der ins Museum zum Essen oder Lesen einlädt oder Christine Hill, die auf der 'documenta X' eine 'Volksboutique' oder 'Thrift Shops' eröffnete.
Gehen Projekte davon aus, sozial relevant zu sein und eine Verbesserung sozialer Situationen oder mindestens sozialer Kommunikationen zu bewirken, würden sie über ihre Interventionen hinaus Handlungen provozieren, die, wenn sie angenommen oder weiterentwickelt würden, Unterschiede setzen könnten. Die Relevanz sozialen Handelns würde sich mit dem Kalkül ökonomischer Intentionen decken und zur 'Selbsthilfe' anleiten, wofür die Kunstprojekte eine Probe abgäben. Die zunehmende Projektarbeit im Ausbildungsbereich mag dafür ein Indikator sein.
Ein wichtiges Moment der Kunstprojekte ist die kommunikative Praxis, die an die Stelle des Werkes tritt. Der Kommunikationsbegriff geht von der eindimensionalen Struktur des alten Modells (Sender-Empfänger) weg und zu einem wechselseitigen, interaktiven Verhalten über, zur Partizipation. In dem wechselseitigen Bezug in der Kommunikation überschreiten die Beteiligten die gewöhnliche, passive und hierarchische Kommunikationsstruktur. Ein Austausch wird möglich im Unterschied zu der auf Wahlmöglichkeiten beschränkten Interaktion nach multipel choice. Interaktionen bleiben dabei an vorgegebene Strukturen gebunden wie etwa an Computerprogramme, die nicht verändert werden können. Wenn Interaktion mehr als blosse Reaktion bedeutet und kollektive Praxis wird, dann können inhaltliche, methodische und ästhetische Aspekte auf allen Ebenen der Produktion und Konsumtion in einem dynamischen Prozess beeinflusst werden.
"Partizipation geht zunächst einmal von einer Differenzierung zwischen Produzierenden und Rezipierenden aus, ist an der Beteiligung letzterer interessiert und überantwortet ihnen einen wesentlichen Anteil entweder schon an der Konzeption oder am weiteren Verlauf der Arbeit. Während sich interaktive Situationen meist an ein Individuum wenden, realisieren sich partizipatorische Ansätze meist in Gruppensituationen. Kombinationen zwischen allen dreien existieren, Übergänge sind fliessend und rigide Kategorisierungen sind wenig zweckmässig." (14)
Der Projektverlauf erzeugt somit eine Dynamik, die ein Netz sozialer Beziehungen kreiert, in das alle Beteiligten gleichwertig aufgenommen sind. Theorie ist darin gleichermassen integriert: Theorie wird nicht reaktiv oder nachträglich eingesetzt, sondern ist ein Teil innerhalb des Prozesses von Konzeption, Produktion und Präsentation. Dasselbe kann auch für die Interaktion mit dem Publikum gelten, partizipatorische Ansätze richten sich dann nicht nur an Einzelne, sie bilden eine Umgebung, ein konkretes Setting.
Diese Ansprüche einer sozialen Praxis oder sozialen Handelns erinnern an die Theorien des kommunikativen Handelns der 70er Jahre, die schon einen "Ausweg aus der Subjektphilosophie" (J. Habermas) postulierten, allerdings mit hohen Idealen. Ob Veränderungen von Strukturen auch zu einem demokratischeren Verhalten führen, das bleibt offen. Die gleichwertige Partizipation der Beteiligten kommt heute nicht als grosses Ideal daher, denn das Spielerische und Flexible, die neue Leichtigkeit, begleiten sie. Dies zeigt sich in der Bereitschaft, die Projekte wieder aufzulösen und andere neu zu starten. Fragen der Macht und Kontrolle, bestimmter Interessen scheinen in diesen Bewegungen integriert zu sein, wodurch Idealisierungen verhindert oder vermindert werden können. Flexibilität ist dabei eine Chance zum Ausprobieren, andererseits wird sie den Einzelnen von dem gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen auch aufgezwungen. Die Widersprüche, in die die Einzelnen involviert sind, gelten dabei als unauflösbar.
Die Diskussion und Kritik des Kunstbegriffs – und damit des Begriffs Künstler und in Analogie des Begriffs Autor – ist zunächst der deutlichste Effekt einer kollektiven Praxis und entspricht offensichtlich dem Bedürfnis nach kommunikativen Situationen und sozialen Beziehungen im Kontext der Sehnsucht, Kunst und Leben verbinden zu können. Lebenskraftwerke. (LKW 15)
"Geht man davon aus, dass es zu den zentralen Punkten dieses Selbstverständnisses (des Kunstbegriffs) gehört, von der symbolischen Ebene auf die 'reale' zu wechseln, also an die Stelle der Deutung und Kritik des Sozialen die soziale Praxis zu setzen, dann ist es vor allem die Rhetorik dieser pragmatischen Haltung, die Aufschlüsse über das zugrundeliegende Weltbild geben kann", sagt Christian Kravagna. (16)
Dass von einer Allgemeingültigkeit abgesehen wird, haben Kunstprojekte deutlich gemacht, die Kunst in Lebenspraxis überführen, als das, was sie ist: sinnliche Erfahrung. Kunstprojekten, die ausserinstitutionell arbeiten, gelingt das am ehesten. Wie wirkungsvoll kulturelle Praktiken sein können, die eine Demokratisierung der Institution Kunst anstreben, das bleibt eine Frage. Kunst als Kommunikationsform ist nicht an traditionelle Kunsträume oder Kunstfertigkeiten gebunden. Selbstorganisation bedeutet heute, auch von der Medienvielfalt Gebrauch zu machen, multimedial zu verfahren. Und mit Selbstorganisation ist auch ein anderes Verständnis von Öffentlichkeit gemeint: Kunst im öffentlichen Raum soll nicht Schmuck sein, sondern Positionierung, Eingriff und Ereignis. Ironischerweise ist das, was Kunstprojekte als Subversion rhizomatisch, nomadisch und vernetzt eingebracht haben, um gegen die Institutionen anzutreten, von ihnen angeeignet worden; seien das Stadtgebiete, die Atelierräume boten, welche dann zu teuren Lofts umfunktioniert wurden oder Netzwerke, die eine Cyber-Elite sich zunutze gemacht und sich selbst in eine nomadische Macht verwandelt hat. Der Widerspruch von Chance und Vereinnahmung kann nicht aufgehoben, das Gefühl der Ambivalenz als das Ehrlichste aber angenommen werden.
Die neuen elektronischen Technologien haben den alten Traum einer antihierarchischen Vernetzung wieder in der Netz-Bewegung aufgeworfen. Kollaboratives Arbeiten. Das offene Forum. Eine Art Magnetfeld. Die Debatte um das Verschwinden des Autors zugunsten einer kollektiven AutorInnenschaft wird vor allem im Kontext der Hypertextdiskurse geführt, on- und offline, und mit der Möglichkeit in Verbindung gebracht, die avantgardistischen Literatur- und Ästhetik-Modelle in zugängliche kulturelle Praktiken überzuführen. Das heisst auch, die Ästhetik für eine alltägliche Lebensweise nutzbar zu machen und den Projektgedanken zu konkretisieren. Hypertexte als Modelle für Kollaborationen, also für Projekte, zeigen "das Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Ebenen, Kontextbezüge, Querverbindungen, Schnelligkeit des Austausches – das Inszenieren und Bearbeiten intertextueller Strukturen – verteiltes kollaboratives Entwerfen und entwickeln von Ideen" (17), das Einzelne in Relation (Relativität) bringen und in Kontexte einbinden.
Julia Kristeva hat mit ihrem Begriff der Intertextualität (18) in den 70ern benannt, dass es nicht die eine Struktur der Sprache gibt, dass vielmehr verschiedene Arten des Symbolisierens und des Subjekts existieren, die sich nicht auf etwas Allgemeines, auf Normalität etwa, zurückführen lassen. Ein sprachliches Zeichen könne nicht auf einen Sinn zurückgeführt, sondern nur zwischen verschiedenen Bezugssystemen changiert und dadurch mehrdeutig werden. Die geistigen Bezugssysteme werden als begrenzte relativiert und als Effekt einer Beziehung zwischen Text und Lesenden hergestellt – was eine aktive Aneignung verlangt. Transposition nennt Kristeva das, Intersubjektivität, womit sie auch die Konstruktion des Subjektbegriffs der Moderne in Frage stellt.
Gegenwärtig ist Vernetzung ein Paradigma der Informationsgesellschaft. Das Verschwinden der Kunst und ihrer Künstler wird angekündigt analog zum Verschwinden des Autors. In der interdisziplinären Verschränkung des Genres ist es vorgedacht und an neuen Konzepten der Produktion, Vermittlung und Rezeption erprobt. Work in Progress. Die Bedingungen und Strukturen von künstlerischer Produktion und deren Präsentation werden offen ausgelegt wie eine Karte. Kartographieren. Mapping steht für Prozess und Praxis. Die Aufteilung in bipolare Systeme und Dichotomien scheint obsolet. Die Diskurse um die kollektive Autorschaft verschieben sich von den Randzonen in den Mainstream der Kunst.


III.
Die Wiener Kunsthalle zeigte Oktober 1999 bis Januar 2000 eine Ausstellung über Projektkunst: "projektbezogene Gemeinschaftsarbeiten von KünstlerInnen aus den 90ern". 'Get Together – Kunst als Teamwork', "eine zukunftsweisende Form derzeitiger Kunstentwicklung". Mehr als dreissig Gruppen haben sich daran beteiligt, international, darunter: Die Damen/Lawrence Wiener, Tracy Emin/Carl Freedman/Georgina Starr/Gillian Wearing, Art&Language/Bank, ASII Art Ensemble, Carsten Höller/Philippe Parreno/Rirkrit Tiravanija, Labin Art Express, Calc, ®TMark.
Das Basler KünstlerInnenkollektiv @Home zeigte eine 'Seins-Fiction-Hütte': Die diplomatische Vertretung. Ein Pentagon-Dodekaeder (ein von 12 fünfeckigen Flächen begrenzter Raum) – der letzte platonische Körper aus der goldenen Reihe, im 20. Jahrhundert als Grundform für das Pentagon (USA) und jetzt – als Form, als Gefäss oder Gefährt für ein paar Leute; heimlich, unheimlich und rätselhaft. Im Gespräch mit den @Homeies sagt Mona: "Die Dinge sind aufgefüllt mit Kultur, es ist interessant, sie von den Bildern zu lösen, dann anzuheben und zu zeigen, dass abgegriffene Haltungen den Blick verstellen. Die Reibung am kollektiven Gedächtnis ist wichtig, um nicht einzuschlafen, auch um festzementierte Haltegriffe einfach loszulassen, Verschiebungen zu machen. Die Dinge sagen dir, was geschehen soll. Meine Fähigkeit ist, den Überblick zu behalten."
Seit vier Jahren leben und arbeiten die @Homeies zusammen: 3–9 Leute, Frauen und Männer. Sie kennen sich von der Basler Hochschule für Gestaltung, die sie abgeschlossen hatten. Zusammen mieteten sie ein altes Gewerbehaus neben dem Hauptbahnhof und sanierten es. Was denn die Gruppe zusammenhält, frage ich. "Freundschaft. Das Konzept der Freundschaft. Die Sorge füreinander." Mit Foucault: Die Sorge um sich? "Gelegentlich, Theorie ist anwesend. Aber je näher die Einzelnen bei ihren Fertigkeiten sind, desto besser machen sie die Sache." Door of perception. Fragen stellen und Experimente durchführen. Die Idee: ein Netzwerk, Verbundenheit zwischen ein paar Leuten, zusammenleben, arbeiten und wohnen als Kunst, als Lebenskunstwerke (LKW). Wie lebt man zusammen? Wie wirken digitale und analoge Vernetzung auf das Zusammensein? Kunst als Forschung. Projektkunst im Labor. "Hypertext mark up language. Das Grundprogramm: direkt verlinken", sagt Paco.
@Home ist ein grosser Raum für die Öffentlichkeit. Das Label ist ein Bienenhaus für einen Schwarm ohne Königin. Kleine Waben sind für das Private, mit Vorhang statt Türe abgegrenzt. Das Schwarm-Modell. Eine Ansammlung. Die Organisation eines Schwarms ist hoch kultiviert und verlangt eine integrative Kraft von allen. "Der Schwarm hat vieles, was seine Teile nicht haben, denn das einzelne Bienengehirn arbeitet mit einem Gedächtnis von sechs Tagen, der Schwarm operiert mit einem Gedächtnis von drei Monaten." Also ein kollektives Muster, ein Patchwork vielfältiger Aktivitäten. Internet. Inter-Aktivität. Inter-esse. Im Hintergrund tippte Kater "Warhol" irgendwann auf eine Computertaste. Später seien Dollarzeichen aus dem Drucker geflogen, sagt Christina.
Abgeschlossene Projekte waren bisher vor allem 13x Hometrainer, Kunst als Party, Party als Kunst. Clone the Party. Bei Voll- oder Neumond wurden die Türen unter dem Motto geöffnet: Freiheit für die Füsse. Clubbing Intermedia Performances, eine andere Club Culture im Basler Nachtleben. @Home live. Die Idee @Home geht auch extern: Einzelprojekte, die unter Made@Home oder unter eigenem Label auftreten: Club Integral, experimentelle und elektronische Performances. Oder Skisuisse, ein Musiklabel, zur Zeit aktiv auf dem Netz mit einem interaktiven Computerspiel, das die DJ-Aktivitäten von @Home integriert, sozusagen für die Entspannug vor dem Computer sorgt. Für ein Relax. Mit einem sanften Mausklick abrufbar unter http://www.ski-suisse.ch. Oder: Musik Circus (nach John Cage). Crossovers aller Art, interdisziplinäre, intersubjektive, intermediale Momente auch zu finden unter der Adresse: http://www.xcult.ch/ateliers/home/ufo.html
"@Home ist das permanente Provisorium als Lebensbefindlichkeit im Transit. – Strategien der Kunst haben in den Neunzigern zusehends die politischen Strategien abgelöst. In unserer vollständig ästhetisierten und maskierten Realität scheint die Einforderung des selbstgewählten Abdrucks ins Realitätsgefüge die vordringlichste Gratwanderung zu sein. Das Leben will als Erfahrungsraum begriffen werden, die Kunst als Schlitten. Wir liefern mit @Home nicht viel Neues zu dem Thema. Wir bemühen uns, konsequent zu sein, um aufrechte Wesen zu bleiben. Wir benutzen die Kunst, um unsere Geschichte mit unserer Kultur zu erzählen, indem wir Wirklichkeiten bilden. Trivial magic. – Vermutlich sind Menschen kollektive Wesen. Die Frage ist nur, ob das Individuum dieses Gedächtnis aktivieren kann. Ist dies der Fall, wird es seelisch bewusst und verbindet sich selbstverständlich in intelligenter Weise mit anderen zu Gemeinschaften. Kann es nicht dazu kommen, wird es ein Avatar für fremdbestimmte Inhalte. – Ideen sind natürlich problemanfällig. Die Selbstverliebtheit in eine Idee ist das grösste Gift. Aber Ideen sollten wie Material begriffen werden. Wir treffen uns um den Gegenstand und werfen Ideen hinzu. – Manchmal gibt es aber Ideen, die sind wunderbar, aber zur Lösung der akuten Aufgabe total ungeeignet. Das kann manchmal schmerzen und verwirren. Aber irgendwie kommen alle Beteiligten zum Zuge. Die Erfahrung zeigt, dass die Qualität der Konzentration das Entscheidende im Verlauf eines Entwicklungsprozesses ist – sei das im Team, zu dritt oder zu neunt." (19)
Später sagt Mona: "Die verschiedenen Psychen treiben einen manchmal nach Hawai, aber ich bin immer wieder zurückgekommen." Ausserdem sehen die Baupläne der Bahn den Abriss des Geländes vor. Dauer ist nicht inbegriffen, das Experiment aber erfolgreich und anregend und kann fortgesetzt werden. Das Haus, @Home, als sozialer, lebendiger Ort, in dem sich die verschiedenen Geschichten verbinden, ist zugleich Modell für ein Netzwerkprojekt als auch eine Netzkultur vielfältiger Vernetzung verschiedener Materialien, Medien und Handlungsprozesse. Es ermöglicht Verschachtelung und Schichtung, gibt hierarchische Muster auf und vermeidet Konsensstrukturen – dem theoretischen Modell hypertextuellen Schreibens als ein 'Schreiben an Orten' (20) verwandt. Die Grenzen liegen auf der Hand: Unterbrechungen durch Jobs. Mit kollaborierten Environments ist (noch) kein Geld zu verdienen. Für die Entwicklung dieser kollektiven Kunstform ist der Kunstmarkt nicht bereit. So gesehen bilden diese Gruppen ein Ausserhalb, das aber mitten drin ist, auch 'inbetween'. Die Herausforderung ist angenommen, sich im digital vernetzen Environment zu situieren und die Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen durch den technologischen Wandel zu nutzen.

Leben wie im Netz heisst auch, ohne doppelten Boden zu leben, also flexibel zu sein und Unsicherheiten auszuhalten; auch Computer zeigen: Es gibt Abstürze. In ihrem Buch: "Leben im Netz"(1995) schreibt Sherry Turkle: "Das Internet bietet jede Menge Selbsterfahrung und eine Einsicht ist: Ich bin viele." (21) Das Kunstprojekt bietet dafür auch einen Proberaum und evoziert ein Näheverhältnis als eine andere Art des Umgangs miteinander: die offene Werkstatt als Pool von kompetenten, interessierten und künstlerisch motivierten Leuten jenseits kurzlebiger Hypes. Die bekannte Tatsache, dass eine künstlerische Arbeit sich nicht allein durch künstlerische Tätigkeit (Stichwort "autonomes Künstlersubjekt") konstituiert, sondern eine Art Coproduktion von direkten und indirekten Einflüssen darstellt, formuliert ein anderes Subjektverständnis: das multiple Subjekt. Ist die Produktionsform selbst ein Thema, kann Handlung auf 'reale Wirkung' beharren und -gegen die relative gesellschaftliche Folgenlosigkeit einzelner ästhetischer Objekte – zum Beispiel von Tafelbildern – insistieren. Kunst ohne Werk und Ästhetik ohne Absicht verbinden sich in den offenen Systemen der Kunst-Projekte zu Entwürfen von Leben und Lebendigkeit. Es sind neue Formen der Zusammenarbeit, die nicht als Ideal oder Avantgarde daherkommen wollen, auch nicht als originelle Hervorbringung eines Subjekts, sondern einfach als ein Projekt.




Veröffentlichung in:
KUNSTFORUM INTERNATIONAL: Kunst ohne Werk, BD.152, 2000









Anmerkungen
1 Roland Barthes: death of the Author, in: Image-Musik-Text, New York, Hill/Wang 1977.
2 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent, in: Gesammelte Schriften Bd.2, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1982.
3 Michel Foucault: Was ist ein Autor, in: Foucault Reader, DVA, Stuttgart 1999.
4 Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie, Frankf./M. 1976.
5 Michel Foucault: Schriften zur Literatur, Suhrkamp, Frankf./M. 1979.
6 Jean-Francois Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985.
7 Vilém Flusser: Krise der Linearität, Bern 1988.
8 Josef Wieland: Die Wirtschaft als autopoietisches System, in: Delphin, X, 1988.
9 Judith Butler: Das Unbehangen der Geschlechter, Suhrkamp, Frankf./M. 1991.
10 Dorothea Strauss: Intimate Sozial Affairs. Die Suche nach dem Subjekt in der
Kunst der Neunziger Jahre anhand ausgewählter Beispiele, in: Marion Strunk
(Hg.): Subjekte, Stars und Chips. Subjektpositionen in den Künsten, Edition
Howeg, Zürich 1999.
11 Stella Rolling: Das wahre Leben, in: M. Babias/A. Könneke (Hg.): Die Kunst des
Öffentlichen, Verl. der Kunst, Dresden 1998.
12 Wolfgang Zingl: Wochenklausuren, in: Marius Babias (Hg.): Im Zentrum der Peripherie, Verl. der Kunst, Dresden 1995.
13 Christian Höller: Störungsdienste, in: Springer, Bd.1, Heft 1, 1995.
14 Christian Kravagna: Arbeit an der Gemeinschaft, in: Die Kunst des Öffentlichen, a.a.O..
15 Lebenskunstwerke (LKW), Ausstellungskatalog: O.K. Centrum für Gegenwartskunst, Linz 1999.
16 Christian Kravagna: Zur Konjunktur eines Begriffs, in: Springer, Bd.1, H.1, 1995.
17 Warnke/Coy/Tholen (Hgg.): HyperKult. Stroemfeld/Nexus, 1997.
18 Julia Kristeva: Bachtin. Das Wort, der Dialog und der Roman, in: Literaturwissenschaft und Linguistik III, hg. v .J. Ihwe, Frankf./M. 1972.
19 Vibrationen der Neugierde, Interview von Paolo Bianchi mit @Home, in: Get Together, a.a.O.
20 Jay David Bolters: Writing Space. The Computer, Hypertext and the History of Writing, Hillsdale, 1991.
21 Sherry Turkle, Leben im Netz, Rowohlt, Reinbeck 1998.

LINK
www.xcult.org/strunk/wolle