zur Kurztextkultur

Miniaturtexte kennen wir schon länger: auf Postkarten. Mit den Kommunikationsformen der Emails und der SMS (short message service) auf den Handies findet die Shortest Story in diesen Jahren zu neuen Blüten. Diesen Kurztexten ist unser PMS-Museum gewidmet.

Das Internet ist ein Medium der Miniaturen - der kleinen Bilder und der kleinen Texte. Viele Bild-Miniaturen haben es in sich. Es sind elaborierte Animationen, heute oft in Flash-Technik, mit bewegter Grafik, Sound und raffinierter Programmierung. Doch wie steht es um die kleinen Texte? Wir schreiben sie millionenfach in unsere Emails. Da verhalten sie sich meistens sachdienlich. Ihre Sache ist es, schnörkellos nackte Informationen zu vermitteln, Fakten. Aber gibt es nicht auch die anderen Mails, die Gefühle herauskitzeln - Liebesgrüsse, Zoten und Antwort-Glossen?
Mit den SMS der Handy-Kultur wird die Kleinstform für Texte noch weitergetrieben, als bei den Emails. 5- bis 6-Wörtersätze, von denen 3 sagen, was der Fall ist und 2 oder 3, wie es der Fall ist. Zuerst: Ich liebe dich. Dann: - über alles. -wie Gott. - von ferne. - von ganzem Herzen. - bis aufs Blut. - aus der Hüfte. - mehr als Peter. - du mich auch?
Schon mit 5-6 Worten lässt sich klärend und zumutend einiges aussagen. Wieviel dann erst mit 50? Doch so einfach ist das nicht. Leute sollen schon 50 mal "Kicher" geschrieben haben. Spracharithmetisch ist das uninteressant.

Vergleicht man 50-Wort-Textchen mit Bildanimationen, müssen sie zur Ebenbürtigkeit einige narrative und emotionale Scharniere aufweisen. Die Zeitschiene (Timeline) bleibt bei Texten zwar linear, doch sie existiert, selbst bei 50 mal "kicher". Wenn ich schreibe: "Plötzlich schlagen Flammen aus dem rechten Triebwerk. Ich höre ein seltsames Pfeifgeräusch und sehe, wie die Stewardess bleich nach vorne eilt. Langsam, dann immer schneller schmieren wir über den rechten Flügel ab. Ich höre mich schreien."
Dann ist das in 39 Wörtern Multimedialität oder Multisensualität! Noch 11 trennen mich vom Tod, literarische Qualitätsdebatten würden in dem Moment als kleinlich empfunden. Aber was machen mit den verbliebenen11 Worten? Beten? Drohen? Verstummen und nach dem Stop-Button suchen? Oder doch nur 11 mal "Kicher" schreiben? Zur plausiblen Rettung reichen 11 Wörter jedenfalls nicht aus, mal abgesehen von Superman, der es auch mit 11 macht. Dann lieber 5 einsetzen für ein schnelles, hartes Ende. Aber was jetzt sagen mit den verbliebenen 6? Die 6 nach dem Tod?
Soviel zur Timeline.

Die Multimedialität von Texten erzeugt sich in unserem Leserkopf. Das nenne ich kostengünstig. Das Interaktive Element bei Texten liegt dagegen in der Mehrdeutigkeit. Wenn jemand schreibt: ich liebe dich, bitte komme sofort! und der andere antwortet: ja, liebe mich, jetzt komm ich! kann das zweideutig sein. Vor allem bei Männern. Mehrdeutigkeiten heisst ja ein Mehr an möglichen Wahrheiten. Vor allem die Sätze von Leuten aus Diktaturen sollen einen hohen verbalen Interaktivitätsgrad haben. Ihre politische Mehrdeutigkeitsraffinesse ist elaboriert, wir in den pressefreien Ländern dagegen oszillieren nur noch im obszönen Bereich. Wir klammern uns an Tabus, um uns ein Minimum an verbaler Polyvalenz zu erhalten. Sonst schlaffen wir zwischen den Zeilen noch ganz ab.

Zur Hebung und Pflege der Kurztext-Kultur haben wir dieses Online-Museum gegründet. Wir zählen auf ihre interaktiven und multisensuellen Beiträge.