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Am ersten April 1998 gab der amerikanische Softwarekonzern Netscape die bis zu diesem Zeitpunkt geheim gehaltene Programmierung seines Browsers, des «Netscape Communicators» bekannt – des bis vor kurzem wohl populärsten Programms zum Surfen im Internet. Wenngleich vor allem auch Künstler schon zuvor ihre eigenen Internet-Browser bastelten, bedeutete die Freigabe dieses Sourcecodes doch einen wichtigen Schritt hin zur Entwicklung von alternativen Netzprogrammen: Wer zu programmieren versteht, kann nämlich seither nach Belieben eigene Versionen des Communicators erstellen. Wenige Tage nach diesem Event trafen sich in Amsterdam zum ersten Mal Programmierer aus ganz Europa, um selbst gebaute Programme zum Surfen im Netz vorzustellen. Dieser von der Society of Old and New Media organisierte «International Browserday» findet am 19. Mai dieses Jahres nun zum dritten Mal statt (http://www.waag.org/). Anlass für die BaZ, einige dieser alternativen Browser in der Rubrik Netzkunst vorzustellen.

Das World Wide Web 1:1
Das Projekt 1:1 von Lisa Jevbratt benutzt als Ausgangsmaterial die IP-Adressen von fast 200'000 Servern des World Wide Web. In fünf verschiedenen Browser-Interfaces visualisiert die Medienkünstlerin und Research-Theoretikerin dieses enzyklopädische Angebot von Links und variiert den Zugriff nach hierarchischen oder farbspektralen Regeln und Gesetzmässigkeiten des Zufalls. Lisa Jevbratt betreibt mit ihrem Projekt Netzkritik von Innen, sie thematisiert das Medium aus sich selbst heraus. Ob es um die Browser-Software geht oder um die Vernetzungsstrukturen der Server-Protokolle, immer sind in der Software, auf die man für seine Webausflüge angewiesen ist, bereits informationstechnische und ästhetische Vorentscheidungen festgeschrieben. Die Informationsdesigner bestimmen die Möglichkeiten der Benutzer und beugen sich ihrerseits der Macht der Programmierer und Script-Standards. Diese Umlenkung von Macht vom Dinglichen auf das Symbolische ist nach Vilém Flusser das eigentlich Kennzeichnende dessen, was wir Informationsgesellschaft und nachindustriellen Imperialismus nennen. In Lisa Jevbratts Projekt wird dieses Prinzip visualisiert und reflektiert. rest
Site: http://cadre.sjsu.edu/jevbratt


Digidada
In Mark Napiers Browserprojekt «Shredder» werden die Texte, Bilder und Animationen einer vom Besucher angewählten Webadresse in malerische An- und Unordnung gebracht. Das Resultat ist schön und purer Ästhetizismus. Die Seite von (Jörgl) www.haider.or.at wird ähnlich schöngeshreddert wie etwa die von (Karel) www.gott.sk. «Shredder» funktioniert wie eine Malmaschine, doch nicht nach Tinguelys Art, sondern nach dem Sampling-Prinzip, mit eingebautem Web-Scratching. Auch der Kunstbrowser «funksolegrind» von Andi Freeman produziert malerische Effekte durch mahlerische Methoden. Er frisst sich lautlos durch die Texte der angewählten Websites und springt, wenn er auf Links trifft, über zu den neuen Seiten. Wenn sich dem Browser immer neue Links als Transferstellen anbieten, bahnt er sich vor unseren Augen seinen jede Semantik zerreibenden Weg kreuz und quer durchs weltweite Netz. Das kann, wie Andi Freeman schreibt, Stunden und Tage dauern. rest

Site von Mark Napier: http://www.potatoland.org/shredder/
Site von Andi Freeman: http://www.channel.org.uk/sHrd/


Ein Blick hinter die Netzfassade
Wer schon lange einmal einen Blick hinter die Netzfassade von dieser oder jener Lieblingsseite werfen wollte, ist mit dem «Web Stalker» von I/O/D bestens bedient. Dieser Browser, den man in wenigen Minuten vom Netz auf die eigene Festplatte herunterladen kann, imitiert die Struktur des Internet. Gibt der Benutzer eine Webadresse ein, wird die Seite als HTML-Code abgebildet, das heisst in der Sprache, die zum Erstellen von Webseiten verwendet wird. Und die Hyperlinks werden als Grafik dargestellt. Den «Web Stalker» sollte man allerdings vorzugsweise bei kleineren Sites ausprobieren, die Umsetzung grosser Seiten kann einige Zeit in Anspruch nehmen.
she
Site von I/O/D: http://www.backspace.org/iod/