Logik der Sammlung und Wahrheit in der Fotografie
Stefan Banz im Gespräch mit dem russischen Philosophen und Kunsttheoretiker Boris Groys

FAN (III)

Stefan Banz: Ihr neues Buch «Logik der Sammlung», eine Kollektion von Essays der letzten Jahre zum Kontext der Bildenden Kunst ist soeben bei Hanser, Edition Akzente erschienen. Was bedeutet es für Sie, Kunst zu sammeln, und nach welchen Kriterien werden heute Kunstwerke gesammelt?
Boris Groys: Ich sammle keine Kunst, das muss ich zuerst einmal gestehen (lacht). Diese Essays sind aus keinem persönlichen Engagement, keiner persönlichen Erfahrung heraus geschrieben. Das persönliche Sammeln, das Sammeln nach einem gewissen Geschmack oder nach dem, was einem gewissen Geschmack entspricht oder einen gewissen Geschmack ausdrückt, interessiert mich eigentlich nicht. Mich interessiert das öffentliche Sammeln, die Institution Museum. Denn, wenn Menschen als Kuratoren fürs Museum sammeln, sammeln sie nicht das, was sie mögen. Das fasziniert mich. Sie sammeln das, was aus einer abstrakt-theoretischen, historischen Perspektive heraus repräsentativ zu sein scheint. Mich interessiert Sammeln in diesen «neutralen» Begriffen. Mit anderen Worten, ich sammle nicht das, was mir gefällt, sondern das, was ich aus einer fiktiven Perspektive, aus einer ideologischen Fiktion heraus, als relevant-interessant betrachte.
B: Was ist dieses fiktive Allgemeine, nach welchem sich zum Beispiel der Kurator orientiert?
G: Das ist das historische Bewusstsein. Das ist diese Idee, dass eine historische Zeit einen gewissen Ausdruck hat und jede Generation zu jeder Zeit an jedem Ort weltgeschichtlich, ästhetisch markiert werden kann und muss und wo das Museum die Aufgabe hat, diese Weltgeschichte in der einen oder anderen Form zu präsentieren. Dieses Bewusstsein entsteht nach der Französichen Revolution als der post-revolutionäre, französische Staat anfing, Relikte des Ancien Régime auszustellen und zu sammeln. Das heisst, sie machten eine Epoche anschaulich, die nicht mehr da war und nicht den Geschmack der Republik repräsentierte. Dieser postrevolutionäre Umgang mit der vorrevolutionären Kulturform war der eigentliche Bruch. Die Relikte wurden als Kunst, aber nicht als etwas in sich wertvolles, machtvolles oder religiös beladenes gesammelt. Und daraus ist ein historisches, ein hegelianisches Bewusstsein entstanden. Vom Beginn der Moderne bis heute werden wir von der Idee beherrscht, dass es so etwas wie Zeichen der Zeit gibt, die wir suchen können und auch sicher sind zu finden. Aus dieser merkwürdigen ideologischen Fiktion oder Konstruktion heraus wird gesammelt. Das ist faszinierend, weil dieses Sammeln an sich Kunstwerk ist: Gesamtkunstwerk – im Unterschied zum Sammeln aus einer psychologischen, obsessiven Realität heraus, die vielleicht interessant, aber keine Kunst ist.
B: Wenn der Museumsmann (die Museumsfrau) sich im Museum tatsächlich sein eigenes Kunstwerk generiert, welche Rolle würden Sie dann dem Künstler zuweisen?
G: Keine grosse. Der Künstler bedient nur dieses allgemeine Kunstwerk der Moderne, liefert das Material dafür. Er ist genauso wie in der Kirche, ein Produzent der Artefakte, die ihre Bedeutung erst erhalten, wenn sie Teil dieses Gesamtkunstwerkes werden. Das heisst, der Künstler arbeitet letztlich auf der Ebene des Materials, mehr oder weniger, mehr oder weniger effektiv. Allerdings gibt es Künstler – und die sind für uns interessant – die sozusagen ein gespaltenes Bewusstsein haben und gleichzeitig Künstler, also Belieferer dieses Systems, und Kuratoren sind: Sie haben sozusagen eine kuratorische Komponente in ihrer künstlerischen Praxis. Wir kennen viele – Duchamp ist nur ein herausragendes Beispiel –, die in der Moderne relevant sind und diesem Typus entsprechen. Sie sind aber nicht, weil sie etwas produzieren, Künstler, das ist völlig irrelevant, sondern weil sie diese kuratorische Komponente in ihrem Bewusstsein haben. Deswegen sind sie Künstler und für uns relevant. Wichtig und entscheidend ist für mich die Frage nach dem Kontext. Denn der Kontext wird heute immer wieder als etwas faktisches verstanden. Aber das ist eine unglaubliche Verirrung im Sinne des Realismus des 19. Jahrhunderts, ein Rückfall in eine barbarische Zeit. Der Kontext «Kunst» ist eine Fiktion, den es tatsächlich nicht gibt. Und das ist der Grund, warum die Kunst die Kunst ist. Die Fiktionalität des Kontextes macht die Kunst zur Kunst.
B: Die interessanten Phänomene finden tatsächlich oft nicht innerhalb der klassischen Begrifflichkeiten – wie Künstler, Rezipient, Kurator, Sammler etc. –, die man irgendwann im Verlaufe der Zeit bestimmt hat, statt. Und trotzdem scheint es mir, dass die Diskussionen im Kontext Kunst doch vorwiegend um diese Kategorisierungen kreisen. Mit ihrem Statement aber greifen Sie gerade in jene Bereiche ein, in denen sich die meisten Leute bereits ihr Gärtchen abgesteckt haben. Und wenn Sie in dieses Gärtchen hineintreten, dann muckst der andere, der Nachbar, und Sie sind mittendrin in einem endlosen und mühseligen Konflikt. Mir scheint, dass der Grossteil der Diskussionen innerhalb der Bildenen Kunst sich um solche Probleme bemüht. Die wesentlichste Frage bleibt da die Kompetenzüberschreitung.
G: Ja, das geschieht, weil sowohl die Künstler als auch die Nachbarn ihre reale Bedeutung überschätzen. Wir haben schon Duchamp erwähnt. Duchamp hat dieses Pissoir genommen. Was aber ist mit den anderen Pissoirs passiert? Den anderen Pissoirs ist es nicht besser und auch nicht schlechter ergangen. Die Tatsache, dass es ein Pissoir in einem Museum gibt, hat im Leben anderer Pissoirs überhaupt nichts verändert. Sie werden genauso benutzt wie frührer. So ist es generell. Die Künstler meinen, dass wenn sie mit einem gewissen Material arbeiten – mit sozialem, politischem Material etc. – sich etwas zum Guten ändert. Andere befürchten, dass es sich vielleicht zum Schlechten ändert oder jemand ausgebeutet wird oder was auch immer. Keines passiert. Auf dieser Ebene passiert überhaupt nichts. Das Problem im heutigen Diskurs über die Kunst ist, dass es eine gewisse Nervosität und einen gewissen Wunsch gibt, sie irgendwie aus der Perspektive der Realität heraus zu erklären und zu rechtfertigen – in der einen oder anderen Form, auch negativ, auch wenn die Kunst gefährlich ist. Aber warum eigentlich? Wenn man sich das Problem des Museums nämlich näher betrachtet, heisst die Frage: Wie unterscheidet sich Kunst von Nicht-Kunst?
Kunst wird beschützt. Kunst ist eine Masse von Gegenständen, die, sagen wir, unter Polizeischutz steht. Sie hat gewisse Garantien der Unversehrtheit. Übertreten oder Verletzen dieser Garantien gilt in unserer Gesellschaft als strafbar. Das heisst, in Duchamps Pissoir kann nicht gepinkelt werden, in alle anderen kann gepinkelt werden. Das ist der Unterschied. Und das bedeutet, dass all diese Gegenstände des Lebens, der Realität, im Grunde nichts anderes sind als Müll, «the garbage». Das heisst, das sind alles Gegenstände, die von der Struktur her zum Scheitern verurteilt sind. Der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst ist der Unterschied zwischen geschützten und ungeschützten Gegenständen, zwischen Garantie und Nicht-Garantie. Ja, das ist im Grunde vielmehr ein juristisches und polizeiliches als ein ästhetisches Problem.
B: Das heisst, erst die Verschiebung eines Dings durch den Kurator – zum Beispiel aus dem Atelier des Künstlers – ins Museum generiert es zum Kunstwerk?
G: Ja, wobei ich nicht glaube, dass man im Sinne einer Theorie der performativen Sprechakte, wie auch immer, einen Moment fixieren kann, wo man sagt: das ist Kunst. Das kann weder der Künstler noch der Kurator sagen. Keiner kann das sagen, weil es sich nicht um einen realen Vorgang handelt. Was real passiert, das sind nur Vorschläge, Wünsche. Der Künstler wünscht, dass sein Kunstwerk anerkannt wird, der Kurator auch, die Institution und alle andern auch ... Und dann fällt plötzlich eine Bombe und alles wird zerstört. Mit anderen Worten, auf der Seite der Realität und der performativen Sprechakte sind das alles nur fromme Wünsche. Es gibt keine Macht dahinter. Was aus diesen frommen Wünschen etwas Reales oder Pseudoreales macht, das ist dieser imaginäre Überbau, das heisst, wir tun so als ob diese Kunstwerke anerkannt sind. Tatsächlich ist es nicht so. Das ist eine ideologische Fiktion.
B: Aber wie ist es mit der Realität selbst? Hat Realität etwas konsistentes oder ist sie nicht auch nur ein Konglomerat von verschiedensten Konstellationen, Partikeln und flüchtigen Dingen?
G: Nein, das glaube ich nicht. Realität hat schon eine gewisse Konnotation. Realität hat immer mit Risiken und Verbrechen zu tun. Das heisst, was Realität ist, das sehen wir im Fernsehen. Was Kunst ist, das sehen wir im Museum. Wo es Risiken, Tod, Verbrechen gibt – der ganze Kram mit dem sich auch Massenkultur beschäftigt – da oder das ist Realität. Je weniger die Dinge geschützt sind, desto mehr haben wir diesen Eindruck. Mit anderen Worten, man fragt sich, was für ein Effekt, was für ein Gefühl wird Realität genannt. Ich würde sagen, in unserer üblichen Kultur ist es das Risikogefühl. Das heisst, wenn ich vom Leben bedroht bin, dann erfahre ich die Realität. Übrigens hat Kant bemerkt, wenn Sie sich daran erinnern, dass die Schweizer das Erhabene nicht empfinden können, weil sie so unmittelbar mit der Gefahr ihrer Berge vertraut sind. Nur ausländische Touristen können, wenn sie in die Schweizer Berge gehen, von der Gefahr erfasst werden (lacht).
B: Man hat tatsächlich des öfteren das Gefühl, dass wir Schweizerinnen und Schweizer das Erhabene nicht empfinden können, aber nicht wegen den Bergen, sondern wegen unserem ausgeprägten Verständnis von Demokratie, wo das Herausragende immer wieder durch die Gesetzmässigkeit des Kompromisses nivelliert wird und deshalb nahezu nicht existenzfähig ist.
G: Es gibt kein Risiko.
B: Das Risiko ist vermindert.
G: Das vermindert auch das Gefühl des Lebens, weil das Leben ein Gefühl ist. Die Realität ist ein Gefühl. Und die Kunst ist kein Gefühl (lacht)!
B: Weil Sie in Deutschland leben, schreiben Sie Ihre Texte innerhalb eines mitteleuropäischen Kunstkontextes, gleichzeitig können Sie sich als Russe aber auch auf eine Metaebene begeben. Hat diese «Doppeltheit» Konsequenzen für Ihr Schreiben, und ist der von Ihnen zuvor beschriebene Kontext Kunst ein spezifisch mitteleuropäischer?
G: Zunächst einmal denke ich, das Kunstsystem, wie es in der europäischen Moderne entstanden ist, funktioniert genauso wie die Wissenschaft. Sicherlich hat es eine gewisse lokale Verbreitung. Zum Teil ist es verbreitet, zum Teil nicht. Aber es hat eine allgemeine Gültigkeit. Ich glaube nicht, dass Kunst kulturell bedingt ist, sie ist überhaupt nicht Teil der Kultur. Sie ist nicht kulturell bedingt, weil sie nicht menschlich bedingt ist: sie ist eine Figur des Denkens. Schon Husserl, Platon und viele andere haben bemerkt, dass zum Beispiel die Mathematik und viele andere Figuren des Denkens nicht an die Menschen gebunden sind. Es gibt zwar – wie Husserl richtig sagte – in der Kunstpraxis eine gewisse Ebene des wissenschaftlichen Denkens, die in der Kultur agiert, allerdings durch einen gewissen Bruch in der Kultur. Kultur ist keine homogene Erscheinung, und Kunst und Wissenschaften agieren in einem agonistischen Verhältnis zu ihr. Es gibt eine sehr schöne Bemerkung von Carl André: «Culture is something other done to me and art is something I do to others.» Jemand, der sich mit Kunst, mit Wissenschaft, mit Philosophie beschäftigt, lebt in einem agonistisches Verhältnis zur Kultur. Er distanziert sich ständig von seiner eigenen Kultur. Diese Aktivitäten sind entstanden und entstehen ständig neu durch einen Bruch mit der eigenen Kultur – mit dem, was uns umgibt. In diesem Sinne glaube ich nicht, dass das, was ich beschreibe, ein kulturell begrenztes Phänomen ist. Es ist eine Figur, die zwar geographisch, sicherlich auch in ihrer Wirkung, begrenzt ist, aber abstrakt gesehen ist es eine logische, abstrakte Figur, die entweder realisiert ist oder nicht, aber es ist kein Teil einer Kultur. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen. Die meisten, die hier in diesem System aufgewachsen sind, glauben an so etwas wie Freiheit oder künstlerische Individualität, weil sie viele Zwänge der westlichen Kultur für selbstverständlich halten und so mit ihm verwachsen sind, dass diese Zwänge nicht mehr erkennbar sind. Kommt man aber von Aussen – und da ist es nicht wichtig, ob von Russland, Nigeria oder Papua – ist man mit diesen Zwängen sofort konfrontiert. Man merkt Zwänge und nicht Freiheiten. Das ist eine Illusion auch der westlichen Rezeption, dass man sagt: «Ah ja, Sie sind vom unfreien Russland in den freien Westen gekommen.» Sicherlich erlebt man die westliche Kultur als extrem repressiv, viel repressiver als die russische. Die russische Kultur, ich meine, das sowjetische System funktionierte als ein System der Begrenzung, als ein Zensursystem: Bis zu einem gewissen Grad bist du frei zu machen, was du willst, aber eine gewisse Grenze kannst du nicht überschreiten. Und im Westen beginnt der kulturelle Druck am Anfang, man beginnt eigentlich mit dem Druck. Es gibt keinen Freiraum im Unterschied zu traditionellen Ländern, das ist keine Frage. Deshalb glaube ich, dass man als Ausländer, als Emigrant, instinktiv in erster Linie die Zwänge bemerkt und auf die Zwänge reagiert. Und wenn ich meine Texte lese, dann merke ich, dass ich immer etwas thematisiere, was mehr mit dem Zwang und der Notwendigkeit zu tun hat, als mit der Freiheit und der Selbstverwirklichung. Das ist sicherlich meine Erfahrung. Ich halte aber meine Erfahrung nicht für etwas, das wiederum nur mein Eigentum oder spezifisch für meine Lage ist. Es ist tatsächlich, wie Sie sagen, weniger eine Metaebene: ich würde nicht sagen, dass ich dieser Kultur fremd bin, ganz im Gegenteil, ich bin in dieser Kultur drin. Aber ich bin in dieser Kultur in der Weise drin, dass ich sehr sensibiliert bin für diese Zwänge, mehr sensibilisiert vielleicht als viele andere. Und das verleiht einen gewissen Blick.
B: Wenn Sie dieses Phänomen der Zwänge im Kontext der Bildenen Kunst betrachten, welchen Zwang würden Sie da heute als den wesentlichsten bezeichnen?
G: Der grösste Zwang, die grösste Zensur – und das versuche ich immer wieder zu thematisieren – ist die Originalität. Damit man sich mit jemandem beschäftigt, muss er etwas vorweisen können, was offensichtlich – und diese Offensichtlichkeit ist hier sehr wichtig – anders aussieht, als was immer schon da ist. Er muss sich für den Blick des Betrachters visuell eindeutig situieren. Er muss sich in diesem Blickfeld unter den Augen des Kurators, des Betrachters etc. so positionieren, dass er unmissverständlich als originell, eigenartig zu beschreiben ist. Erst dann beginnt man sich mit ihm und dem, was er zu sagen hat – was der Sinn seines Werkes ist – zu beschäftigen. Das heisst, es gibt eine gewisse Forderung, die eine formal-technische ist, auch eine ökonomische, wie ich zu zeigen versucht habe. Diese ökonomisch-technisch-formale Forderung ist sehr eng mit der Zivilisation verbunden, in der wir leben und die eben auch aus formalen, technischen, ökonomischen Zwängen insgesamt aufgebaut ist. In unterschiedlichen Bereichen sehen sie ein bisschen anders aus, aber die Ebene ist wichtig. Erst dann, wenn man auf dieser Ebene Erfolg hat, beginnt der Diskurs, die Auseinandersetzung etc. Und da geschieht eine sehr merkwürdige und für die westliche Öffentlichkeit oft unbemerkte Umkehrung der Tatsachen. Wir glauben, wir beschäftigen uns mit einem Werk, weil es so interessant ist und weil so tiefe Gedanken und Gefühle darin stecken. Aber man vergisst diesen ersten Schritt. Das ist eine bekannte, psychologische Tatsache, die Menschen vergessen immer den ersten Schritt, das ist normal. Dieser erste Schritt ist unangenehm, deshalb verdrängt man ihn und sagt: wir beschäftigen uns mit diesem Künstler, weil er in seinen emotionellen Gedanken so wunderbar ist. Und diese kalte, formaltechnische, ökonomische Vorstufe will man nicht wahrhaben. Wenn man darüber spricht, wie ich es tue, dann sagt man: Ah ja, das hat damit zu tun, dass du über die Fertigstellung, Kodifizierung und was auch immer sprichst. Das ist nicht der Fall. Es ist nicht so, dass man mit einem Denken beginnt und bei einem Ding endet, sondern man beginnt mit einem Ding und dann endet man beim Denken. Und das wird vergessen.
B: Vielleicht auch, weil es etwas Paradoxes in sich birgt. Wenn Sie sagen, es ist der Zwang der Originalität, dann ist es gleichzeitig auch diese lineare Wiederholung der Originaltiät als einfache Stilerkennbarkeit. Aber Wiederholung ist meiner Meinung nach der Originalität in gewisser Weise entgegengesetzt. Ein Original, das sich wiederholt, ist kein Original. Vielleicht ist gerade dies der Grund, warum man den ersten Schritt stets sofort vergisst und den zweiten oder dritten im Nachhinein zur Inauguration erklärt? Denn der Kontext Kunst empfindet erst dann etwas als originell und anders, wenn es in seiner Form eine Kontinuität hat und diese Kontinuität bedeutet eine Art Wiederholung.
G: Jaa, nein. Aber was wir jetzt haben ist ein kompliziertes Verhältnis. Wie können wir überhaupt sagen, dass etwas originell, anders ist. Wir vergleichen das mit dem, was immer schon war. Und sicherlich hatten wir in der Zeit, die wir als klassische Moderne bezeichnen, vor dem Krieg, eine sehr stabile Kunstgeschichte, eine sehr stabile museale Sicht, diese Moma-Sicht. Man konnte in diesem Kontext museal vorgehen. Man konnte neue Formen stellen, und da war die Lage klar. Das Besondere an der Kontext-Kunst ist – und dies beginnt ja mit der Postmoderne generell – das Hantieren mit der Vergangenheit, dem Kontext und dem Background im Sinne von George Orwell, um die Dinge anders aussehen zu lassen. Das bedeutet, dass sich dieser Zwang zur Andersartigkeit nicht verändert hat, aber verlagert vom Ding – von der Form – auf den Kontext ihrer Schalung oder Interpretation, so dass, wie in Orwells 1984, die gleichen Ereignisse immer neu erscheinen, weil die gesamte Vorgeschichte immer umgeschrieben wird. So funktioniert der Kunstbetrieb heute. Damit ein Ding als interessant gelten darf, muss ein Kritiker oder ein Kurator sehr schnell eine Kunstgeschichte erfinden, die auf gewissen Tabus aufgebaut ist und dann, siehe da, dieser Künstler bricht genau mit diesem Tabu. Das ist eine Strategie, die theoretisch auf eine geniale Weise von Derrida beschrieben worden ist. Man baut zunächst einmal die ganze Geschichte des Logozentrismus etc., man verwendet praktisch die ganze Zeit, diesen Kontext aufzubauen und dann bricht man mit dieser Tradition und der ganze literarische Gestus ist so genial, dass man nicht merkt, dass es im Grunde nicht darum geht, diesen Kontext aufzulösen, sondern im Gegenteil ihn aufzubauen. Und so funktioniert auch der gesamte Kunstbetrieb. Man baut eine gewisse geschichtliche Konstruktion, realisiert die Konstruktion übrigens oft als eine Ausstellung, zeigt einen gewissen Rahmen, erfindet ein gewisses Framework, und dann plötzlich, siehe da, erscheint diese Arbeit als etwas unglaubliches und weltbewegendes. In diesem Sinne ist die Erfindung interessant, aber nicht die Erfindung dieser Arbeit, sondern die Erfindung des Kontexts.
B: Also das Sekundäre wird zum Primären und umgekehrt?
G: Ja, wobei ich sagen würde, dass es nicht sekundär und primär ist, sondern vielmehr dieses Zeitverhältnis. Es ist Vergangenheit und Gegenwart. Das heisst, Kontext ist Vergangenheit, ist das, was wir stellen, was immer schon gewesen ist. Wenn ich zum Beispiel Kontext-Kunst sage, ist das nichts anderes als Orwell, der künstlerische Umgang mit der Vergangenheit. Kontext ist gewordene Vergangenheit. Das bedeutet nichts anderes, als dass ich die Vergangenheit neu gestalte und neu interpretiere. Nachdem zum Beispiel der Futurismus die Zunkunft, von der wir nichts wissen, als ein Spielfeld für seine Erfindungen neu entdeckte, haben wir realisiert, dass wir von der Vergangenheit eigentlich genausowenig wissen. Und das war die grosse Entdeckung der Nachkriegszeit und vieler totalitärer Regimes, dass die Vergangenheit ein wunderbares Spielfeld für Erfindungen aller Art und für künstlerische Arbeit ist. Die Arbeit mit dem Kontext ist die Arbeit mit der Vergangenheit. Und wenn ich die Vergangenheit modifiziere, modifiziere ich das Licht, in dem die Gegenwart erscheint. Das ist die Arbeit mit der Beleuchtung.
B: Welche Bedeutung haben für Sie die Schriften von Jacques Derrida?
G: Oh, eine sehr inspirierende. Das bedeutet aber nicht, dass ich mit ihm einverstanden bin. Und mehr noch, ich finde seinen Ansatz grundfalsch und unrichtig.
B: Weshalb?
G: Weil ich tatsächlich meine, dass das menschliche Wesen ein endliches ist. Ein endliches Wesen zu sein bedeutet nicht nur, dass man nicht zu einer unendlichen Wahrheit fähig ist, es bedeutet auch, dass man zu einer unendlichen Unwahrheit unfähig ist. Das endliche Wesen kann nicht unendlich dekonstruiert werden. Es gibt auch dafür Grenzen. Derrida meint immer wieder, die Arbeit der Dekonstruktion sei unendlich und unsere Überzeugungen, unser Glaube etc. könnten unendlich dekonstruiert werden. Wir können es nicht. Wir können nichts unendlich machen, wir können auch nicht unendlich skeptisch sein. Das war das alte Argument von Kierkegaard.
B: Impliziert sein Denken der différance aber nicht einen tiefen Relativismus, der von der Konsistenz her gerade nicht unendlich sein kann – vielleicht höchstens endlich und unendlich zusammen, ein Paradox?
G: Es sieht nicht so aus. Er spricht zum Beispiel über das andere, das sich uns auf eine unendliche Weise entzieht, ein Ereignis, das jenseits aller Ereignisse steht. Wenn wir in Begriffen des Kontextes sprechen, würde ich sagen, meint Derrida unter diesem anderen einen unendlichen Kontext, der alle unsere endlichen Kontexte auflöst und auf ein Ereignis oder eine Andersartigkeit hinweist, die unser Erfassungsvermögen grundsätzlich übersteigt und sozusagen alles in Zweifel zieht. Das ist eben immer noch zu romantisch, würde ich sagen. Denn wir wissen es nicht. Wir können immer neue Kontexte erfinden, aber wir wissen nicht, wie weit es geht. Wir können nicht glauben, dass die Öffnung unendlich ist. Die Tatsache, dass wir drei, vier, fünf, sechs, hundert neue Kontexte erfunden haben, bedeutet nicht automatisch, dass es hunderteins gibt. Es muss tatsächlich erfunden und gezeigt werden, damit ich das glaube. Und wenn es hunderteins gibt, ist es nicht bewiesen, dass es hundertzwei gibt. Das heutige Denken tendiert zu dieser Vorstellung: Wenn nicht eins, dann sehr viele. Wenn es nicht nur eine einzige verbindliche Interpretation gibt, sondern zwei, drei, vier, fünf oder zwanzig, dann kommt das grosse Und-so-weiter, dann gibt es tausend. Nein, es gibt zwanzig! Das ist das Problem.
B: Glauben Sie auch nicht an Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen?
G: Weder ewige Wiederkehr des Gleichen, noch andere Unendlichkeiten.
B: Bei Ihrem Essay «Über das Neue» habe ich allerdings ein bisschen das Gefühl, dass Ihre Beschreibungen des «Neuen» und der Valorisierung von «hoher» und «niedriger» Kunst dennoch in einer gewissen Weise einen Circulus vitiosus generieren, der sich immer wiederholt, was folglich eine Art Ewigkeit oder Unendlichkeit impliziert.
G: Unter einem sehr wichtigen Vorbehalt. Unter dem Vorbehalt, dass wir in diesem System, in dieser Kunstfiktion, leben und mitmachen. Das ist aber nicht ausgemacht. Ich kann zum Beispiel leben, ohne mich an diesem Spiel zu beteiligen. Was ich in dem Buch sagen will, ist, dass wenn ich dieses Spiel überhaupt spiele, es meiner Meinung nach so aussieht. Das ist wie Schachspielen, nicht wahr. Wenn ich beginne Schach zu spielen, dann sieht es so aus. Konstellationen im Schachspiel haben auch diesen wiederkehrenden Charakter, obwohl man unendlich Schach spielen kann. Aber ich muss in meinem Leben nicht Schachspielen lernen, ich meine, das ist keine Notwendigkeit. Die Notwendigkeiten sind alle bedingt durch meine Partizipation.
B: Und dadurch sind sie endlich?
G: Dadurch sind sie endlich. Aber machen wir das nicht, dann machen wir es halt nicht. Und das ist das Problem mit Derrida. Derrida beginnt mit dem gleichen Fehler – er ist ein Schüler von Heidegger. Er liest die Phänomenologie, dieses philosophische Spiel, so, dass sie notwendig ist. Das beginnt mit Heidegger: Ich entdecke mein Ich, ich entdecke philosophische Welteinstellung, ich entdecke Reduktion, also diese Figur des philosophischen Spiels, durch die Verzweiflung, durch die Niederlage, durch die Unmöglichkeit der Konstruktion etc. – also als Niederlage, als Öffnung zum Unendlichen durch die Niederlage. Nicht durch den Sieg, wie es klassisch war, sondern durch die Niederlage. Ich glaube aber nicht an die unendliche Niederlage (lacht). Es gibt in jedem Spiel Niederlagen, aber ich kann genauso wenig wissen, dass ich immer Niederlage erleide, wie ich nicht wissen kann, dass ich immer siege. Es gibt nur die Einzelfälle. Ich weiss nicht, was weiter passiert, ich weiss nicht, wieviele Niederlagen ...
B: Das Inspirierende an Derrida aber ist vor allem, mit welcher Liebe und Hingabe er sich dem Unscheinbaren und Nebensächlichen widmet. Er macht dies fast zu einer sozialen Aufgabe und bringt es fertig, trotz strengster analytischer Konsequenz, unsere Gefühle philosophisch in Wallung zu versetzen. Wir entwickeln ein Mitgefühl dafür. Derrida kann aus einer winzigen Fussnote ein ganzes Buch schreiben, was vor ihm wahrscheinlich noch niemandem gelungen ist.
G: Ja, aber es ist auch wiederum nur ein Spiel. Derrida ist ein grosser Philosoph und er kann das tun, weil er wirklich einen gewissen Gedankengang – der bei Schopenhauer, Nietzsche, Freud, Heidegger, Marx etc., bei allen diesen Denkern des Unbewussten, der Niederlage, des Problematischen, der verborgenen Determinanten des Lebens angefangen hat – in eine Form gebracht hat, die unübertroffen ist. Ich hüte mich zu sagen ... niemand weiss es, aber ich habe das Gefühl, sie wird auch niemals übertroffen werden. Sie hat die gleiche Qualität wie die hegelsche Philosophie. Sie hat einen gewissen Gedankengang wirklich in seiner äussersten Möglichkeit dargestellt. Und dafür muss man ihm wirklich dankbar sein, denn es ist eine grosse intellektuelle Leistung. Weil er diesen Gedankengang so perfekt beherrscht, kann er überall anfangen und den ganzen Weg machen und dort ankommen, wo er will.
B: Derrida ist einer der ganz wenigen Philosophen, welche die Distanz zwischen Physis und Metaphysis – die ich im Kunstmarkt Voyeurismus nenne und zum Beispiel mit Werken von Wolfgang Tillmans oder Nan Goldin verbinde – abgebaut haben. Vor allem in seinen Schriften der 70er und 80er Jahre hat er sich weit von den klassischen Argumentations- und Denkmustern des Logozentrismus entfernt und eine unmittelbare, doppelte Philosophie gelebt. Dieser «künstlerische» Derrida aber wird oft noch immer verdrängt oder ausgespart, weil er möglicherweise zu nahe ans Leben herangerückt ist. Wenn man von Derrida spricht oder schreibt, meint man meistens den «argumentativen» Derrida der 60er Jahre – Grammatologie, Die Stimme und das Phänomen, Die Schrift und die Differenz etc.
G: Auch Derrida funktioniert nach einem bestimmten Prinzip. Das ist, wie schon gesagt, das Prinzip der Unendlichkeit. Simulacrum, Differenz, Dissemination, Unbewusstsein etc. sind genauso Erfindungen, Fiktionen wie alles andere ... Was aber für mich in bezug auf die Kunst wichtig ist, ist, dass ich gar nicht an den Kunstmarkt glaube. Ich glaube nicht, dass der Kunstmarkt existiert. Markt ist etwas, auf dem alles zu kaufen und zu verkaufen ist. Das Museum aber ist nicht bereit, seine Bestände auf dem freien Markt zu verkaufen, deshalb ist es für mich eine so interessante Figur. Das heisst, die Kunst funktioniert durch den Entzug eines Teils der verfügbaren Kunstmasse vom Markt. Und dies bedeutet nichts anderes, als dass der Markt als Markt nicht existiert. Weil der Markt nur dann existiert, wenn alles zu verkaufen ist und zwar zu jeder Zeit nach kapitalistischem System. Und weil es dies in der Bildenden Kunst nicht gibt, werden diese fehlenden ökonomischen Marktoperationen durch eine fiktive, symbolische Ökonomie ersetzt. Das ist es, was ich im Buch Über das Neue beschreibe. Mit anderen Worten, der Entzug eines Teils der verfügbaren Kunstmasse vom Markt bedeutet, dass ich fähig bin, Nicht-Kunst als Kunst zu erklären oder auszugeben und es bedeutet auch, dass das vom Markt Entzogene keinen Wert hat. Leonardos Mona Lisa hat tatsächlich denselben Wert wie Duchamps Pissoir: Sie haben beide keinen Wert, weil sie nicht verkauft werden können. Sie haben nur einen symbolischen Wert. Das ganze Spiel mit der modernen Kunst ist also nur möglich, weil es keinen Kunstmarkt gibt. Käme es zu einem wirklichen Kunstmarkt, dann wäre es mit der Kunst vorbei, denn dann würde das Kunstsystem, wie wir es jetzt kennen, nicht mehr existieren. Das Kunstsystem von heute ist eine Art Religion, in welcher das Museum die Funktion einer Kathedrale hat. Für alle diese Systeme ist das Zentrale der Entzug und das Entziehen bestimmter Dinge: dass bestimmte Dinge ohne jeden Grund, ohne jede Berechtigung, ohne jede einsichtige Grundlage plötzlich aus dem allgemeinen Güterverkehr herausgenommen werden und als unverkäuflich und staatlich geschützt erklärt werden.
B: Würden Sie das auch von privaten Sammlungen sagen? Ist das für Sie auch eine Art Museum?
G: Nein, private Sammlungen können veräussert werden. Und das ganze museale System übt ständig Druck auf die privaten Sammler aus. Das ist der zweite Grund, weshalb ich nicht an die privaten Sammler glaube. Es gibt sie gar nicht, weil sich private Sammler am musealen System orientieren. Sie haben ihren Geschmack und ihre Prinzipien schon längst verloren, sie folgen im Grunde dem musealen System. Und auch steuerlich, rechtlich sind sie in einer Weise gebunden und unter Druck, unter dem kein normaler Markt funktionieren kann. Sie sind also von Anfang an unter der Strahlung dieses Systems. Das ist tatsächlich wie mit der Religion, wie mit den Reliquiensammlungen.
B: Glauben Sie nicht, dass der Druck auch in umgekehrter Richtung wirkt? Es gibt doch viele Galeristen oder Sammler, die eine unglaubliche Macht haben in bezug auf das, was für Museen gekauft wird. Wenn wir zum Beispiel die 60er Jahre betrachten: Warum waren nahezu sämtliche Künstler dieser Zeit, die wir heute in den Museen diskutieren, bei Leo Castelli in New York?
G: Weil Castelli irgendwie begriffen hat, dass es gehen, funktionieren wird, und andere haben es nicht begriffen. Die guten Galeristen sind nicht diejenigen, die ihren Willen aufzwingen, das können sie nicht, sondern die, welche sich schnell anpassen, und die meisten passen sich nicht schnell an. Ich habe inzwischen einige Erfahrung mit Galeristen, Sammlern etc. und ich denke, die meisten sind erstaunlich langsam. Sie sind langsam, weil sie irgenwelche Vorlieben haben. Erstaunlicherweise sind die meisten Galeristen sehr sentimentale Leute, die wirklich an die Künstler glauben ... unglaublich sentimental! Deswegen haben sie auch diese Langsamkeit. Nur diejenigen aber sind erfolgreich, die sehr schnell sind und sich sehr schnell anpassen können oder deren Sentimentalität durch ein Glück – das Glück ist in diesem Fall das Entscheidende – mit der Sentimentalität der Zeit identisch wird. Die bloss Sentimentalen dagegen, welche dieses Glück nicht haben, bleiben ohne Erfolg. In diesem Sinne glaube ich in keinem Fall an irgendwelche Macht oder Einfluss dieser Leute. Ihr ganzes Glück besteht entweder in der göttlichen Fügung oder in der Schnelligkeit mit der sie sich an den Trend anpassen. Sobald sie versuchen etwas zu diktieren, sind sie verloren. Es sind zu gewaltige und zu grosse Prozesse. Wir sind in einem sehr grossen Kunstsystem. Wenn wir ihm mein Theorem zugrunde legen und sagen: Nur die Werke haben Chancen, die im Vergleich herausragend, innovativ aussehen, bedeutet das, dass derjenige, der es einschätzen soll, dieses gesamte System im Blickfeld haben muss. Das aber kann kaum ein Mensch. Man bemüht sich, bewegt sich und man sieht sich alles mögliche an, aber man ist immer an einen gewissen Kreis, an gewisse Vorstellungen und Vergleichsweisen gebunden ... man ignoriert andere Vergleichsweisen ... Das heisst, man ist viel regionaler, viel provinzieller – in Europa und in Amerika –, als dass man diesen grossen, fiktionalen Vergleichskontext überblicken könnte, und man wird immer wieder zum Opfer dieser Unfähigkeit.
B: Ich möchte nun auf die Fotografie zu sprechen kommen. Sie schreiben am Anfang Ihres Essays «Die Wahrheit in der Fotografie», dass die Fotografie – aufgrund ihrer mechanischen Abhängigkeit gegenüber der Kamera – kein Anrecht auf induviduelle Identität habe. Ich möchte nun fragen: Besitzt sie nicht vielmehr eine individuelle Identität auf einer Art zweiten Realitätsebene? Persönlich glaube ich, dass wir uns in unserer Realität fortwährend auf verschiedenen Ebenen befinden. Das beginnt schon dann ... wenn wir hören, dass jemand gesagt hat ... und jemand erzählt uns ... dann klingelt das Telefon ... und im Fernsehen kommen die Nachrichten ... das sind schon vier-fünf verschiedene Realitätsebenen. Alle diese Erlebnisse verschmelzen zu einer Realität, die wir die unsere nennen. Und wenn die Fotografie auf einer ersten Ebene keine individuelle Identität hat, weil man sich auf dieses Glück oder diesen Zufall der Mechanik des Apparates verlässt, besitzt sie vielleicht doch auf einer zweiten Realitätsebene diese individuelle Identität ...
G: Ja, die Fotografie hat sicherlich diese Identität, das ist ganz klar. Gute Fotografen sind ja sicherlich zu erkennen. Nur ist die Herstellung dieser Individualität und dieser Distinktion viel reflektierter. Was ich hier in diesem Text gemeint habe, ist einfach, dass der traditionelle Maler glaubte, sich auf eine gewisse malerische Handschrift verlassen zu können, so wie ein Fingerabdruck. Er hatte ein gewisses Vertrauen in seinen Körper, dass dieser Körper bereits die Individualität herstellt, auch wenn er strategisch nicht damit arbeitet.
B: Das kann ich sehr gut nachvollziehen, nur glaube ich, dass wenn man in letzter Konsequenz den Akt der Malerei untersucht, auch er von Dingen abhängig ist, die letztlich nicht bis zur letzten Instanz kontrolliert werden können; er bedient sich vorgefertigter Pinsel, vorgefertigter Farben, die vor allem heute, im 20. Jahrhundert aus der Tube kommen. Wir entfernen uns (auch) da immer mehr von dieser absolut urgeschichtlichen Unmittelbarkeit und vertrauen immer mehr auf Hilfsmittel, die schon vorgefertigt sind.
G: Das ist völlig klar.
B: Deshalb finde ich, dass sich das Problem (oder der Vorteil oder wie immer man es nennen will) der Fotografie im Verhältnis zur Malerei, zur Skulptur oder zum Video an einem anderen Punkt ausdrückt. Ich behaupte, die Fotografie ist das abstrakteste Medium, welches überhaupt existiert, weil es aus der Realität, aus dem sich fortwährend ereignenden Leben, nur einen Bruchteil einer Sekunde abbildet. Und weil es nur einen Bruchteil einer Sekunde festhält, ist es das geeigneste Medium, um alle Missverständnisse, die es auf der Welt gibt, zu verbildlichen und zu schüren. Das ist, wie wenn ich aus Ihrem Text «Die Wahrheit in der Fotografie» nur ein einziges Wort herauspicke. Ich kann mit diesem Wort machen, was ich will, immer gibt es eine ihm entsprechende, plausible Anwendung oder Lösung. Diese Lösung aber hat unter Umständen nur sehr wenig damit zu tun, was Sie in Ihrem Essay auf 18 Seiten audrücken wollten. Das heisst, unser Leben spielt sich in der Zeit ab, und das Medium Fotografie ist gegen die Zeit, wenn man so will. Weil sie aber gegen die Zeit und in diesem Sinne ein abstraktes Phänomen ist, ist sie gleichzeitig die beste Differenz zum Leben. Und weil sie die beste Differenz ist, ist sie möglicherweise auch das inspirierendste Mittel, das Wesenhafte des Lebens festzuhalten und zu analysieren. Gleichzeitig aber ist sie vielleicht auch das mythischste, suggestivste, emotionsgeladenste Medium, weil sie etwas sichtbar macht, was wir Menschen im Grunde nicht erleben können, was im Grunde nicht unserem Wesen entspricht: das Wahrnehmen des Moments als Leben.
G: Ja, wie gesagt, was die Realität anbelangt und das Verhältnis zur Realität, dafür bin ich wenig zuständig. Realität – ich weiss nicht, was das ist. Aber wenn man Fotografie jetzt nicht mit der Realität vergleicht, sondern mit anderen Medien, dann fällt tatsächlich eine Differenz auf. Ich würde die Differenz darin sehen, dass der Ursprung der Fotografie in einer offensichtlichen Weise verloren geht. Was meine ich? Wenn ich ein Bild sehe, dann ist das Bild tatsächlich ein Gegenstand dieser Illusion der Realität, der Abbildung. Alle Elemente sind da: Die Leinwand, die Farbe etc. Alles, was passiert, ist da an diesem Ort passiert. Das ist auch der Grund, warum eine analytische Malerei möglich ist. Das heisst, ich kann jetzt beginnen, dies zu analysieren. Ich kann die Leinwand analysieren, die Farbe analysieren, ich kann die Farbe trennen etc. Und wir bekommen im Sinne von Clement Greenberg diesen ganzen analytischen Prozess. Alles, was in der Malerei passiert, ereignet sich im und am Bild selbst. Nehmen wir Video: Video besteht aus sehr viel Technik, Hardware, aber in den meisten Videoausstellungen wird darüber sehr wenig reflektiert. Das ist für mich ein Beweis, dass Videokunst erst angefangen hat, sich selbst zu etablieren und zu reflektieren. Diese Hardware wurde bisher nicht genügend reflektiert. Aber sie ist da, und wir können sie erleben, auch im Falle von Computer. Mit anderen Worten, was in der Fotografie fehlt, ist der Fotoapparat. Das heisst, das, was ich sehe, passierte nicht in der Fotografie selbst, sondern in einem Gerät. Und dieses Gerät sehe ich nicht. Fotografie ist eine Figur des verlorenen Ursprungs. In diesem Sinne hat sie tatsächlich etwas mit dem Diskurs von Derrida und Barthes zu tun. Und es ist im Zusammenhang mit diesen Diskursen kein Zufall, dass sie in den letzten Jahren so populär geworden ist, weil da dieser Bruch mit dem Ursprung, mit dem Moment des Entstehens, diese materielle Verbundenheit mit dem Prozess, auf eine offensichtliche Weise verlorengegangen ist. Ich weiss nicht, wie die Fotografie entstanden ist, und wenn ich die Fotografie analysiere, wie dies Greenberg vorschlägt, komme ich zu nichts, weil die Prozesse, die die Fotografie hervorgebracht hat, nicht in diesem Rahmen der Fotografie selbst stattfindet.
B: Empfinden Sie dies als Verlust?
G: Ja, es ist Verlust des Ursprungs, Verlust der Materialität, es ist Verlust der Reflektivität, der Verlust von all dem, was wir jetzt im Rahmen gewisser Diskurse zu thematisieren, zu geniessen und zu mögen gewohnt waren. Das ist die Grenze der Fotografie. Es ist auch eine gewisse Grenze, ich glaube nicht, dass die Fotografie grenzenlos in ihrer Geltung ist. Es gibt Dinge, die man in der Fotografie nicht machen kann. Es gibt im Unterschied zur Malerei, zu Computer oder Video zum Beispiel nicht diesen analytischen Prozess. Fotografie ist immer ein Hinweis auf etwas, das woanders stattgefunden hat. Dieses etwas ist nicht da. Es gibt keine Präsenz. Fotografie ist tatsächlich ein Spiel mit der Präsenz, eine Präsenz in der Absenz. Sie ist Spur des Materiellen, aber nicht Materialität selbst. Das wurde schon sehr früh gesehen, zum Beispiel auch von Siegfried Kracauer in seinem Aufsatz «Fotografie», wo er schreibt: Fotografie ist Abfall, ist das, was man eigentlich wegwirft. Das ist sehr richtig, Fotografie ist immer Müll. Es ist auch sehr wichtig, dass wir im Grunde kein Bedauern haben, wenn wir eine Fotografie zerreissen und wegschmeissen. Sogar mit einer ganz schlechten Malerei tun wir das nicht. Wir tun das ganz bestimmt nicht mit einem Videogerät oder mit einem Computer, aber wir können eine Fotografie zerreissen und wegschmeissen, weil wir wissen, dass das Wichtigste woanders stattfindet.
B: Weil wir noch das Negativ besitzen. Mit dem Wegwerfen des Negativs ist es schon etwas schwieriger.
G: Mit dem Negativ ist es schwieriger, aber es ist nicht das, was wir in der Ausstellung sehen. Fotografie hat etwas müllartiges an sich, etwas, was man eigentlich wegschmeissen sollte, und das ist sicherlich sowohl faszinierend als auch problematisch.
B: Und trotzdem finde ich sie in bezug auf die Wahrnehmung ein Gewinn, weil sie vieles, was in unserem Leben unsichtbar bleibt, sichtbar macht.
G: Das auf jeden Fall.
B: Das ist der eine Punkt, der andere ist: Das Festhalten der Unmöglichkeit des Augenblicks.
G: Ja, das hat Malerei auch immer gemacht. Ich weiss nicht, ich habe in letzter Zeit sehr viele Fotografie-Ausstellungen gesehen. Ich weiss nicht, was daraus wird. Ich weiss nicht, wie sich die Fotografie weiterentwickeln wird. Wenn ich sehe, wie die Leute reagieren, was sie interessant finden (nicht was die Kritik interessant findet), ist das doch letztendlich der voyeuristische Blick hinter die Kulissen.
B: Nan Goldin zum Beispiel beschränkt sich in ihren Arbeiten vorwiegend auf diesen voyeuristischen Effekt, was ich bereits vorhin angetönt habe und sehr problematisch finde.
G: Ich finde es in dem Sinne legitim, weil ich im Grunde nicht glaube, dass es eine andere Möglichkeit gibt, Fotografie wirklich konsequent zu betreiben. Fotografie hat, glaube ich, eine ganz bestimmte (eingeschränkte) Zone, in welcher sie sich entwickeln kann. Das ist etwas, was uns im Grunde immer schon bekannt war. Wenn die Fotografie mit etwas arbeitet, was wir noch nicht kennen, sind wir merkwürdigerweise nicht interessiert. Es ist eine Illusion, dass wir an dem interessiert sind, was wir nicht kennen. Alle Reisefotografie etc. ist uninteressant. Fotografie ist nur dann interessant, wenn sie eine geheime oder verborgene Seite dessen zeigt, was wir immer schon gut kennen. Das ist ein sehr enger Bereich. Alles, was ich bis jetzt als erfolgreiche Fotografie beobachtet habe, passt in diesen Bereich, arbeitet mit diesem Bereich, inklusive Man Ray. Es ist eine Illusion, wenn man glaubt, er würde etwas anderes machen.
B: Sie haben vorhin gesagt, sobald jemand sentimental sei und persönliche Vorlieben habe, würde es schwierig. Und doch kann wahrscheinlich niemand diesem Phänomen der Vorlieben entgehen. Deswegen frage ich Sie: Welches sind Ihre persönlichen, «sentimentalen» Vorlieben?
G: Das Museum – ich komme jetzt zurück zum Thema Museum – gibt eine merkwürdige Möglichkeit, nämlich das Banale, Langweilige, Ordinäre unseres Alltags als interessant zu zeigen. Und zwar, weil wir diesen Kontext der Kunstgeschichte und zum Beispiel ein Pissoir von Duchamp haben. Für uns ist das Pissoir etwas selbstverständliches, aber wenn wir ins Museum gehen, dann gibt es da Kleopatra, Cäsar und was auch immer. Für sie ist das Pissoir etwas Neues. Das heisst, es gibt einen gewissen Reiz, der darin besteht, dass ich Dinge meines Lebens, meinen Ahnen vorstelle. Das ist, als ob ich meinem Vater, meinem Grossvater etc. Dinge zeige, mit denen ich umgeben bin, und plötzlich sind sie interessant. Das ist fast ein ritueller Akt. Man bringt es ins Museum und plötzlich sehen es die Ahnen und es wird interessant. Nicht viele Künstler benutzen das: Kabakow, Fischli/Weiss, Jeff Wall in einigen Arbeiten. Mich interessieren diese Operationen. Mich interessieren nur diejenigen Dinge, die ausschliesslich in der Kunst möglich sind, sonst nichts. Das, was Nan Goldin macht, kann auch ausserhalb des Museums oder des engen Kunstbereichs, zum Beispiel im Fernsehen, stattfinden. Das ist für mich der Unterschied. Es gibt eine generelle Charakterisierung der Medien: Sie können nicht aktuell sein, weil sie sich immer vor dem Hintergrund der Aktualität profilieren müssen. Sie verbreiten sich im Alltag und müssen vom Alltag irgendwie unterscheidbar sein. Sie müssen irgendwie interessant, aufregend sein, und das macht sie so unmöglich, weil alles interessante und aufregende im Grunde unerträglich ist. Die moderne Kunst und das System Museum haben diese unglaubliche Fähigkeit, Uninteressantes, Langweiliges, Banales, Alltägliches zu zeigen und trotzdem zu bestehen. Das ist eine einmalige Chance, ich meine, das kann man nur dort machen und sonst nirgendwo in unserer Kultur. Und so mag ich mehr diejenigen Künstler – dies ist meine persönliche Vorliebe – die diese Chance benutzen. Die Künstler, die diese Chance nicht benutzen und das bedeutet, dass ihre Sachen nicht unbedingt im Museum, sondern auch irgendwo anders gemacht werden könnten – Damien Hirst zum Beispiel könnte seine Arbeiten genauso gut in einem Varieté machen – sind für mich nicht so interessant. Sie sind weniger spannend, weil sie einfach ihren Gestus haben und nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, die ihnen gegeben sind.
Köln, 8. April 1997