Der Morgen ist für mich geheimnisvoll, weil er selbstverständlich ist. Selbstverständlich ist er, weil er Tag für Tag wiederkehrt, und geheimnisvoll, weil er mir in meiner morgendlichen Verschlafenheit Tag für Tag entwischt.
Eigentlich hasse ich den Morgen, denn ich schlafe sehr gerne, und mit dem Morgen wird diesem Genuß ein vorübergehendes Ende gesetzt. Aber dafür kann der Morgen nichts, er ist irgendwie zwischen Tag und Nacht geraten.
Würde ich aber den Morgen isoliert für sich betrachten und den Tag und die Nacht ausklammern, ginge seine Magie verloren, denn dieses Zwischendrin, der Übergang von nicht bewußtem Sein zum Bewußtsein macht ihn geheimnisvoll.

"In süßer Ruhe schlummert der kindliche Geist und der Kuß der liebenden Göttin erregt ihm nur leichte Träume. Die Rose der Scham färbt seine Wange, er lächelt und scheint die Lippen zu öffnen, aber er erwacht nicht, und er weiß nicht was in ihm vorgeht.
Erst nachdem der Reiz des äußeren Lebens, durch ein inneres Echo vervielfältigt und verstärkt, sein ganzes Wesen überall durchdrungen hat, schlägt er das Auge auf, frohlockend über die Sonne, und erinnert sich jetzt an die Zauberwelt, die er im Schimmer des blassen Mondes sah. Die wunderbare Stimme, die ihn weckte, ist ihm geblieben, aber sie tönt nun statt der Antwort von den äußeren Gegenständen zurück; und wenn er dem Geheimnis seines Daseins mit kindlicher Schüchternheit zu entfliehen strebt, das Unbekannte mit schöner Neugier suchend, vernimmt er überall nur den Nachhall seiner eigenen Sehnsucht." (1)

Diese Zeilen aus Friedrich Schlegels "Lucinde" verbildlichen den fragilen Zeitraum zwischen Nacht und Tag in wunderschöner Form.
"Die Dinge schlagen die Augen auf, wenn man sie liebend betrachtet, sich Muße läßt, sich auf sie einläßt.", schreibt Gisela Dischner in Ihrem Buch: "Friedrich Schlegels Lucinde und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs. (2)
Jetzt schlage ich morgens die Augen auf und versuche, den Morgen liebend zu betrachten und mich auf ihn einzulassen.
Doch für die Muße ist am Morgen meist nicht viel Zeit, und deshalb schaltet sich überstürzt der Tag ein. Um so schöner sind dann die freien Tage, in denen man sich bis Abends nicht auf den Tag einlassen muß. Den Morgen in den Tag hinein gezogen, schwebt man in geistiger Vernebelung zwischen Traum und körperlichem Wohlbefinden und "tut Muße".

Um dem Begriff der Muße etwas näher zu kommen, vertiefte ich mich in eine Theorie zum Müßiggang von Aristoteles und in weitere Abhandlungen zur Muße.
Muße bezeichnet Aristoteles als scholé. Ihr ist das selbstbestimmte Tätigsein zugeordnet, das Aristoteles energeia nennt. Die Muße widerspiegelt sich in der freien, bewußten Tätigkeit und in einer freien Lebensäusserung.

Der Muße gegenübergesetzt spricht Aristoteles von der Mußelosigkeit (ascholia). Ihr unterstellt er sowohl fremdbestimmte Arbeit, das heißt: Arbeit für den Tauschhandel, wie auch den Begriff der Freizeit und der spielerischen Erholung von verrichteter Arbeit. Diese Aufteilung läßt sich begründen, weil Aristoteles der Muße jeglichen Sinn, Nutzen und Zweck entsagt und sie als Lebensform sieht, sich für den Kairos, den erfüllten Augenblick, "frei" zu halten. Der Müßiggänger befindet sich nicht in der quantifizierenden, linearen Zeit der Arbeitswelt, er lebt für die Muße. (3)

Gabriele Stumpp beschreibt in ihrem Buch: "Müßige Helden" eine weitere Aufteilung des Müßiggangs. Sie unterteilt den Müßiggang in einen hedonistisch-lasterhaften, einen spielerisch-geschäftigen und in einen träumerischen Müßiggang, betont aber ausdrücklich, daß sie mit dieser Aufteilung keine streng klassifikatorische Trennung erzielen wolle. (4)
Sie unterscheidet aber ganz eindeutig zwischen Muße und Müßiggang. Die Muße stehe als "Inbegriff philosophischer Betrachtung, der Theoria, an der Spitze der ethischen Güterhierarchie. Als Leben des Ernstes und nicht des Spiels vertritt sie das Ideal aktiver geistiger Tätigkeit, das mit der Entfaltung der Vernunft zugleich die höchste, gottähnlichste Bestimmung des Menschen einlöst und deshalb vollkommene Glückseligkeit verheißt." Im Müßiggang sieht sie jedoch den Leichtsinn eingeschrieben, und schreibt weiter: "Der Müßiggang steht für Liebesfreuden, Ehebruch, Schlemmereien, Weingenuss, Spiel und Verschwendungssucht, für ungehemmte Sinnenlust und Triebverfallenheit, aber auch für ein träges, halb bewußtloses Wohlleben, das alle genuin menschlichen Fähigkeiten in ein pflanzenhaftes Vegetieren depotenziert." (5)
Nach dieser Zerlegung der Begriffe Muße und Müßiggang, selbstbestimmter und fremdbestimmter Arbeit, möchte ich zurückkehren zum eigentlichen Thema: dem Morgen.

Im Moment des Erwachens findet man sich in einer "geistigen Gegenwart" (Novalis), in der es keine Trennung gibt von Vergangenheit und Gegenwart, von Schlaf, Traum und Wachen, von passiv und aktiv, noch die von Ernst und Spiel.
Hier sehe ich die Verbindung zwischen Müßiggang und dem Morgen:
Die "geistige Gegenwart" des Musse-habenden-Menschen, ich bezeichne ihn hier trotzdem als Müßiggänger, ist für mich gleichgestellt mit der unvoreingenommenen Präsenz des erwachenden Menschen. Dieser passiv-träumerische Zustand, und das Sich-Einlassen auf das, was einen scheinbar zufällig umgibt, lassen uns die erfüllende Kunst des Mußetuns erahnen.
Die Dauer dieser fragilen Erwachensphase hängt ab von den unterschiedlichsten Einflüssen aus Tag und Nacht: Träume, Schlafdauer, Alkoholkonsum am Vorabend, Raumtemperatur, Pendenzen, Ort, ob man alleine oder zu zweit erwacht, Bettflasche, Hungergefühl, Zeitdruck, wartender Chef, Montag, Sonntag usw.

Inspiriert von der Theorie zum Müßiggang und von der Unterteilung des Müßiggangs in drei Gruppen, sowie den unzähligen äußeren und inneren Einflüssen auf die Morgenstimmung, beschreibe ich drei Stereotypen, die unter ähnlichen Umständen sehr unterschiedliche Stimmungen erleben. " Die Süße", "der Rare" und "der Faulpelz" sind Überzeichnungen von Daheimgebliebenen, mit deren Morgenstimmungen sich viele von uns ansatzweise identifizieren können.
Es entstehen drei Atmosphären, die sich in gewissen Punkten überschneiden, und es ist auch möglich, daß eine Person diese drei Stimmungen erlebt, zum Beispiel an einem Wochenende: Samstag, Sonntag, Montag.
>Die drei Stereotypen bleiben in der Intimsphäre ihrer eigenen vier Wände.
Diese Absonderung wähle ich bewußt, um der Erwachensphase mehr Spielraum zu lassen.

Aus Iwan Gontscharows Roman "Oblomow" (6), der 1859 erschien, leitete ich den zweiten Teil meines Titels ab: "Der oblomovsche Traum vom Sitzen und Liegen".
Die Hauptfigur des Romans, Ilja Iljitsch Oblomow, ist ein zweiundreissigjähriger Mann, der seine Zeit auf dem Diwan liegend mit angestrengtem Grübeln verbringt. In Gedanken entwirft er einen neuen Plan für die Verbesserung der Verwaltung seines Gutbesitzes. Es bleibt weitgehend beim Gedanken.
Das Leben unterteilt er in zwei Hälften, wovon er die eine, die aus Arbeit und Langeweile besteht - für ihn sind das synonyme Begriffe -, aus seinem Leben strich und sich voll und ganz der zweiten Seite widmet, die ihn mit Ruhe und heiterem Behagen umschließt.
In dieser behaglichen Ruhe versunken kommt ihm nicht der Gedanke, daß man anders überhaupt leben kann.
Mit dem oblomovschen Traum vom Sitzen und Liegen suche ich einen neuen Zugang zur verlorengegangenen Selbstverständlichkeit vom behaglichen Zuhausesitzen und Nichtstun.

Zum Nichtstun schreibt Friedrich Schlegel in der "Lucinde" folgende Zeilen, mit denen ich diesen Text abschliessen will: "Also ich stand am Fenster und sah ins Freie; der Morgen verdient allerdings schön genannt zu werden, die Luft ist still und warm genug, auch ist das Grün hier vor mir ganz frisch, und wie sich die weite Ebene bald hebt bald senket, so windet sich der ruhige, breite silberhelle Strom in großen Schwüngen und Bogen, bis er und die Phantasie des Liebenden, die sich gleich dem Schwane auf ihm wiegte, in die Ferne hinziehen und sich in das Unermeßliche langsam verlieren.
Es war Illusion, lieber Freund, alles Illusion, außer daß ich vorhin am Fenster stand und nichts tat, und daß ich jetzt hier sitze und etwas tue, was auch nur wenig mehr oder wohl gar noch etwas weniger als nichts tun ist." (7)