Tages-Anzeiger, 20.08.2002; Seite 53; Nummer Kultur

Unermüdliche Eilboten für die Mailbox

Wer sich im Internet über Kunst informieren will, hat heute die Qual der Wahl. Ein kleiner Streifzug.

Von Barbara Basting

Auf die Boomjahre des Internet folgt die Ernüchterung. Das hat auch die Netzkunst zu spüren bekommen.Bis heute hat sie nicht jene umwälzende Wirkung auf die Entwicklung der Kunst genommen, die vor zwei,drei Jahren möglich schien. Die kommende Ars electronica firmiert vorsorglich unter dem Titel «Unplugged» - Stecker raus.
Aber die Netart-Adepten haben sich inzwischen Orte geschaffen, wo sie ihre Arbeit als experimentelle Praxis, als kreative oder kritische Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsmedium Internet und dem Computer weiterführen. Aus diesen Enklaven sickert die Netzkunst in den normalen Kunstbetrieb ein. So integriert die aktuelle Documenta XI einige netzbasierte Arbeiten in ihre Ausstellung, ohne dass darum noch viel Aufhebens gemacht würde. Aber auch die Informationsmöglichkeiten über traditionelle Kunst im Internet sind zahlreich und reichen von der Museums-Homepage bis zu speziellen Dienstleistungen.

Schluss mit dem Zeitverlust
Dazu gehören E-zines, Mailinglisten, Newsletters als künstlerische wie wissenschaftliche Foren. Sie verdanken ihre Existenz dem Frust mit dem Zeitverlust beim Surfen. Nützliche oder gar originelle Konzepte
bekommen den Zuschlag.Bekannt unter professionellen Kunstinteressenten ist e-flux, ein 1999 von Künstlern gegründeter Service, der von New York aus über Kunstereignisse weltweit informiert. Inzwischen zählt e-flux über 33 000 Abonnenten, fast die Hälfte davon in den USA. Für sie sind die Newsmails kostenlos, für die Kunden hingegen nicht. Der Tarif hängt davon ab, ob sie kommerziell, nicht kommerziell, institutionell oder als
Künstler-Selbstorganisation auftreten. Grosse Museen wie das MoMA New York nutzen e-flux ebenso wie die DIA Foundation oder die Manifesta. Zu den Zulieferern gehören aber auch die Art Basel, Verlage und Galeristen - darunter Hauser & Wirth aus Zürich. Die Auswahl der Informationen wird, wie die Redaktion sibyllinisch mitteilt, «gemäss den Bedürfnissen unserer Leser und Abonnenten» getroffen.
e-flux bemüht sich, sein schickes Image mit Kunstaktionen zu untermauern. Derzeit findet man auf der Homepage im kargen Technostyle das Kunstprojekt «101 Kunst-Ideen zum Selbermachen». Das witzige Projekt betreut der omnipräsente Schweizer Störkurator Hans-Ulrich Obrist. Daneben verblasst die national ausgerichtete, kommerzielle Kunstplattform swissart.net, die mit News aus dem Kunstbereich und einem zugehörigen Archiv aufwartet. Auch hier können sich die Zirkulationsagenten der Kunst Plätze sichern, auch hier kann man Banners schalten - allerdings in Verkennung der Mechanismen des Kunstbetriebs, der gerade nicht via Selbstannonce funktioniert.

Vernetzung der Forschung
H-Arthist operiert als akademische, nicht kommerzielle Kunstplattform. H-Arthist ist eine Unterabteilung des H-Net, dem derzeit grössten Onlineforum für Geistes- und Sozialwissenschaften.H-Art funktioniert in manchem ähnlich wie eine wissenschaftliche Kunstzeitschrift, hat dieser aber das weitaus schnellere Agieren, den Gratiszugriff, die Diskussionsforen und die Koppelung an eine effiziente,übers gesamte H-Net funktionierende Suchmaschine voraus. In den Mailings wird von der Stellenausschreibung bis zu Rezensionen und akademischen Veranstaltungen sowie Suchanfragen von Forschern alles ventiliert, was die Redaktion durch ihre Filter lässt.
Die Redaktion besteht aus fünf Wissenschaftlern, die bisher dank ihr Anbindung an Institutionen wie etwa das Warburg-Institut in Hamburg noch ehrenamtlich arbeiten können, bald aber öffentliche Gelder bekommen sollen. In einem internationalen Beirat fingieren Namen von Kunsthistorikern, die zur Crème de la crème ihrer Gilde gehören, wie Hans Belting, Horst Bredekamp, Anthony Grafton, Gary Schwartz. Der akademische Anspruch tritt in den recht umfangreichen, qualifizierten Rezensionen von Ausstellungen und Büchern durch zumeist jüngere Wissenschaftler zu Tage. Hier kommen auch interessierte Laien auf ihre Kosten, sofern sie der eher trockene Stil nicht abschreckt. Die Auswahl orientiert sich stark an traditionellen kunsthistorischen Themen. Die Alternative zu H-Arthist ist das deutsche Portal Kunstgeschichte; auch wenn die Mailingliste ganz gut funktioniert und Nachrichten aus dem Kunstbereich bündelt, ist hier die redaktionelle Hand nachlässiger. In der Bannerwerbung unangenehm sichtbar: die kommerzielle Verquickung.

Nicht länger als eine Monitorseite
Für flotte Rezensionen von Ausstellungen der Gegenwartskunst ist die Berliner Blitzreview gut. Sie wurde von Christoph Blase 1995 nach dem noch immer gültigen Prinzip Low Cost Low Budget entwickelt. Daher das spartanische, aber funktionale Design der Homepage von Max Kossatz. Eine Suchmaschine sowie ein Benachrichtungsdienst gehören zur Ausstattung. Wie der Name sagt, legen Blase und seine Mitstreiter die Besprechungen blitzartig und gratis vor. Die Länge soll eine Monitorseite nicht überschreiten. Blase wählt aus und redigiert; seine Kriterien: «Im Prinzip kann jeder schreiben, der sich verständlich ausdrücken kann. Die Inhalte sollten von aktuellem Interesse sein und möglichst aus einer subjektiven Meinungssicht gesehen werden.»
Das macht die Blitzreviews reizvoll. Um die rund 80 000 Hits, die Blase etwa im Juni 2002 verzeichnete,dürfte ihn mancher kommerzielle Anbieter beneiden. Der Erfolg kommt nicht von ungefähr. Beispielsweise bot niemand so rasch so viele Einzelkritiken von der aktuellen Documenta wie Blases Blitzdienst.

Nischen fürs Persönliche
Die Blitzreview ist eine dieser typischen, von Idealisten kultivierten Nischen im Internet. Ein Schweizer Beispiel ist der Newsletter «Marsch empfiehlt», der unter Kennern schon beinahe Kultstatus hat. Der Basler
Künstler Markus Schwander stellt regelmässig eine persönliche Auswahl von Ausstellungen und neuerdings auch literarischen Veranstaltungen vor allem in der Region Nordwestschweiz zusammen, bereitet das Ganze sparsam mit ein paar typografischen Elementen auf und mailt es gratis den rund 2000 Subskribenten. «Die Anzahl der Adressaten ist seit zwei Jahren mehr oder weniger stabil. Mein Ziel ist nicht eine möglichst grosse Adressliste, sondern eine, die sich über Marsch freut», so Schwander.
Solche Projekte stellen der Anonymität des Internet das Persönliche, lokal Verankerte gegenüber. «Eigentlich versuche ich, nur Anlässe zu empfehlen, bei denen ich ernsthaft in Betracht ziehe, dass ich hingehe. Es ist mir egal, wo die Veranstaltungen stattfinden. Ich habe auch schon das Kunsthaus Zürich oder das Theater Basel empfohlen», so Schwander zu seiner Auswahl. «Ich frequentiere allerdings gerne so genannte Offspaces. Und ich unterstütze gerne neue Orte oder kurzfristige Ereignisse, weil ich weiss, dass sie interessant sind, wenn sie existieren, und nicht dann, wenn im Nachhinein ein Buch darüber erscheint.Das zeitlich Begrenzte hat einen enormen Reiz.»
Auf so ein Konzept steht der Kunstbetrieb. Schwander berichtet, dass es inzwischen viele Künstler und Vermittler gebe, die auf seine Seite drängten. Gleichzeitig versuche er diese immer kürzer zu fassen, weil - anders als vor zwei Jahren - die meisten Leute viel mehr Mails empfingen und auch ungehaltener seien über die Schwemme. Dies ist das Hauptproblem aller Newsletters: Es kommt der Moment, wo selbst die spannendste Auswahl in der knallvollen Mailbox nur noch nervt. Hier hilft nur eines: Unsubscribe.

www.e-flux.com; www. swissart.net; www.arthist.net; www.blitzreview.de; www.portalkunstgeschichte.de;
marsch: schwander@datacomm.ch.


Veranstaltungs-Tipps per E-mail
von Paola Pitton

Auf zum Kultur-Marsch!
Markus Schwander gibt einen Kultur-Kalender für Kenner heraus.

Man weiss nie im Voraus, wann «marschs» nächste Empfehlung in der e-Post landet. Wie bei einem Überraschungspaket macht man sich aber über seine Vorschläge für den Kultur-Alltag her. Denn was «marsch» zusammenstellt, ist so kein zweites Mal zu finden, selbst wenn man sämtliche Schweizer Tageszeitungen, Veranstalter-Post und Flyers durchforstet. Im März empfahl er Veranstaltungen im Neuen Kino und im «Plugin». Aber auch Ausstellungen in Kriens, Bern und Fribourg.
«marsch», das ist Markus Schwander, Künstler mit Lehrauftrag an der Fachhochschule beider Basel, Mitglied des Kulturvereins Cargo-Cult und in mehreren weiteren Projekten engagiert. Seit zwei Jahren verschickt er auf Wunsch seine E-Mails – an die 400 Empfänger sinds mittlerweile – in mehr oder weniger regelmässigen monatlichen Abständen.

Austausch fördern
Die Auswahl ist ausdrücklich subjektiv. Wichtiger als die Anzahl ist ihm, ein in sich stimmiges Vorschläge-Paket zu verschicken. Besonders motiviert sei er, wenn irgendwo im Umkreis von zwei Zugstunden eine Veranstaltung stattfindet, auf die er schon lange gewartet hat.
«Ich habe weder das Gefühl, der bestinformierte Mensch zu sein noch den Wunsch, möglichst viele Leute mit marsch zu erreichen.» Ihm komme aber der Austausch unter Künstlern oft zu kurz. «Da ist dieses Gefühl, wenn man in einer Arbeit steckt, sich nichts mehr anderes anschauen zu können. Das hat auch mit der Angst zu tun vor anderen Ideen, vor der Konkurrenz.»
Wenn junge zeitgenössische Kunst mehr Drive erhalten soll, müssen sich mehr Leute beteiligen, Interesse zeigen. Und das sei auch eine Frage der Wahrnehmung: Einerseits sei man von Informationen überflutet, andererseits werde suggeriert, dass Ereignisse nicht existierten, wenn sie in den Medien keine Erwähnung finden. «Ob man eine Veranstaltung besucht, hängt nicht zuletzt davon ab, wie oft man davon hört. Und so sage ich es auch noch einmal.»
«marsch» als pro-memoria und Entscheidungshilfe in einem, sozusagen. «Die Idee hinter dem Ganzen lautet: Wer sich engagiert und informiert ist, hat etwas zu sagen.» Und in Basel gebe es sehr engagierte Leute.

Fehlende Galerie-Szene
Was Markus Schwander fehlt, ist eine gute Galerie-Szene für zeitgenössische Kunst. Ihn beschäftigt die Frage, warum Galerien zurzeit von Basel abwandern, während sie beispielsweise in Zürich florieren. Das habe wohl etwas mit Gruppendynamik zu tun: «In Zürich ist es derzeit schick, junge Kunst zu kaufen. marsch ist auch der Versuch, solche Dynamiken zu beeinflussen. Schliesslich kommt es darauf an, wie viele Leute das Gleiche sagen.» Und Synergien nutzen können: Wenn, wie im Zürcher «Löwenbräu», mehrere Galerien zusammenspannen, steige für Besucher die Attraktivität. Doch da brauche es in der Vergabe von Räumlichkeiten eine aktivere Rolle der Stadt. Denn das Problem sei: Wie kommt man an ausreichend grosse Räume in zentraler Lage?

Basler Stab