Mai-Thu Perret
* 1976, lebt in Genf

Mai-Thu Perret bezieht sich in ihrem Schaffen auf Werke oder Ereignisse aus der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie interessiert sich besonders für jene Momente in der Geschichte, in denen künstlerische, private und gesellschaftliche Utopien auf einander prallen, ineinander übergehen und in ihrem Verhältnis zueinander diskutiert werden. Sie liest, was beispielsweise die Künstler des russischen Konstruktivismus geschrieben haben, nimmt biographische Spuren auf und sucht mit ihren eigenen Werken den Dialog mit Formen und künstlerischen Sprachen anderer Künstlerinnen und Künstler der Moderne. Sie schreibt Texte, die sich auf  bestimmte historischen Ereignisse oder künstlerische Zielsetzungen beziehen, nicht um diese als kunstgeschichtliche Fakten darzustellen und inhaltlich zu vermitteln, sondern, um vielleicht unerfüllte Wünsche zu erneuern oder modernistische Vorstellungen noch einmal zu betrachten. Ihr junges Werk ist breit angelegt und umfasst Skulptur, Installation, Malerei, Graphik, Literatur und Design. Ihre Texte verwendet sie auf Drucksachen, zeigt sie aber auch in Ausstellungen. Im Unterschied zu den Künstlerinnen und Künstlern, auf die sie sich bezieht oder an deren Werk sie sich mit ihren Arbeiten wendet, arbeitet Mai-Thu Perret ausschliesslich innerhalb des Kunstsystems. Die Welt, über die sie nachdenkt, für die sie Dinge entwirft und Bilder malt, und die nach und nach in ihrem Werk Gestalt annimmt, ist eine Modellgesellschaft, die keinen Ort hat. Sie existiert nur als künstlerischer Entwurf und ist insofern eine echte Utopie.

Mai-Thu Perret nährt ihre Arbeit nicht nur aus der jüngeren Kulturgeschichte, sondern auch aus Beobachtungen und Erlebnissen, die sie von ihren zahlreichen Reisen mitbringt. Das Bergdorf Amden, Ort einer gescheiterten gesellschaftlichen Utopie, bietet sich für eine Künstlerin wie Mai-Thu Perret für ein Projekt geradezu an. Als Leitbild für ihre in Amden in einem der für die Gegend typischen Gaden realisierte Installation wählte sie die Fotografie «Innenraum eines Hauses in Oraibi» (1896) des Kunsthistorikers Aby Warburg, die während seiner Reise zu den Pueblo-Indianern in Neu-Mexico aufgenommen wurde. Entstanden ist eine Installation von grosser Poesie, bestehend aus drei grossen, frei von der Decke des Heubodens hängenden Tüchern, eigentlich abstrakten Bildern, und drei Räucherkerzen, die Mai-Thu Perret aus Vietnam mitbrachte. Die Kerzen wurden während der Vernissage angezündet und während sich die Tücher im Inneren der offenen Hütte im Wind bewegten, verbreitete sich der eigentümliche Duft der an einer Aussenwand hängenden Räucherkerzen über die Bergwiesen.

Text: Roman Kurzmeyer, 2007